: „Der Geschmack kommt mit dem Essen“
■ Benjamin Barbers Klassiker „Starke Demokratie“ ist auf deutsch erschienen / Die Politik will er durch lokale BürgerInnenbeteiligung neu beleben
„So vieles, was des Menschen Herz erduldet, Gesetz oder König selten heilt oder verschuldet.“
Dieses Motto gibt Benjamin Barber, amerikanischer Politikwissenschaftler und Clinton-Berater, all denen auf den Weg, denen es nach mehr Demokratie und BürgerInnenbeteiligung verlangt. Barber ist einer von diesen. Seiner Diagnose zufolge, die er schon 1984 publizierte und die nun in gekürzter deutscher Fassung vorliegt, befindet sich das Modell der liberalen Demokratie in einer selbstverschuldeten Krise und bedarf dringend einer Revision. Sinkende Wahlbeteiligung (in den USA bei den Präsidentschaftswahlen magere 50 Prozent), verbreitetes Mißtrauen gegenüber PolitikerInnen und die allgegenwärtige Teilnahmslosigkeit gegenüber politischen wie öffentlichen Fragen sind hier die Stichworte.
Statt nun auf politische Krisen mit zunehmender Privatisierung, Deregulierung und dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zu reagieren, fordert Barber das Gegenteil, nämlich die öffentliche Verantwortung und die Rolle der Politik zu stärken. Sein emphatisches Plädoyer für „starke Demokratie“ ist zum Klassiker in der neueren Demokratietheorie geworden.
Benjamin Barber ist linker Kommunitarist. Kommunitaristisch ist auch sein Vorschlag für Demokratie: Sie ist auf die politische Beteiligung der BürgerInnen an öffentlichen Fragen ausgerichtet und gemeinwohlorientiert. Mit Demokratie verbindet Barber eine staatsbürgerliche Kultur, die auf kleinere lokale Einheiten wie freiwillige Vereinigungen, Nachbarschaftsgemeinschaften, Gewerkschaften, Kirchen, Schulen fußt. Damit stellt er sich in die spezifisch dezentralistische Tradition der USA und in die Strömung der amerikanischen Politiktheorie, die man „Republikanismus“ nennt. Der greift auf die Ideale der ersten amerikanischen Revolutionäre zurück, die für Thomas Jefferson und die puritanischen Farmer-Bürger Neu-Englands bestimmend waren.
Das Los entscheidet die Besetzung von Ämtern
Die kommunitaristisch geprägte Kritik am Liberalismus ist inzwischen nicht mehr neu: Der liberalen politischen Theorie liege ein abstrakter Individualismus zugrunde, der die Individuen als Atome ohne sozialen Kontext auffaßt, die rational ihr Eigeninteresse verfolgen. Gemeinschaften beruhten demnach in Analogie zum Markt auf Wettbewerb und Uneinigkeit zwischen den Menschen, die um knappe Güter konkurrieren. Das, was Gemeinschaften zusammenhält, seien lediglich instrumentelle Beziehungen, die auf rein egoistischen Interessen basieren. Kein Wunder also, so der Autor, daß keine Gemeinschaftsaktionen für gemeinsame Ziele, wie zum Beispiel für den Umweltschutz, zustande kommen, denn ein öffentliches, gemeinschaftliches Bewußtsein kann sich so nur ungenügend entwickeln.
Dagegen beruht Barbers Konzept der „starken“ Demokratie auf einer sich selbst regierenden Gemeinschaft der BürgerInnen, die aufgrund ihrer staatsbürgerlichen Erziehung die Fähigkeit erworben haben, einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen und nach dem Gegenseitigkeitsprinzip zu handeln. Dafür ist aktive politische Beteiligung unbedingt erforderlich. Das heißt, eine „starkdemokratische“ Bürgerschaft ist durch ihr politisches Handeln definiert und prinzipiell für alle Menschen offen.
Im Zentrum der starken Demokratie steht der Dialog, der sowohl affektive und kognitive Komponenten als auch Zuhören und das Hineinversetzen in gegnerische Positionen umfaßt. Diese Kommunikationsform ermöglicht, daß die jeweils privaten Interessen in einer gemeinwohlorientierten Perspektive beurteilt und reformuliert werden und so öffentliche Entscheidungen zustande kommen.
Barber fordert Nachbarschaftsversammlungen, in denen kommunale Sachfragen erörtert werden, einen allgemeinen BürgerInnendienst, zu dem sich alle Bürger beiderlei Geschlechts für ein Jahr zu militärischen und zivilen Aufgaben verpflichten, ein öffentlich ausgeübtes Wahlrecht (also nicht geheim!) sowie die Besetzung von politischen Ämtern durch Losverfahren. Er befürwortet Gutscheinsysteme, mit Hilfe derer die Regierung die BürgerInnen an der Verteilung staatlicher Subventionen für Wohnraum, Bildung, Transportmittel einbezieht. Schließlich plädiert er dafür, moderne Kommunikationstechnologien für die politische Willensbildung einzusetzen (zum Beispiel elektronische BürgerInnenversammlungen, Video-Kommunikationsnetze, Multiple-choice-Voten).
Auch wenn Barbers stark auf Gegensätze ausgerichteter Argumentationsstil es nahelegt, begreift er sein basisdemokratisches Konzept nicht als Gegenentwurf zur repräsentativen, liberalen Demokratie, sondern als ihre kommunale Voraussetzung und Ergänzung. Zudem verlangt er nicht politische Partizipation und Selbstregierung bei allen Fragen und zu jeder Zeit der Regierung.
Ob man damit aus müden Bürgern engagierte macht?
Damit ist Barbers starke Demokratie doch weniger radikal als es zunächst klingen mag. Seine Hoffnung, moderne pluralistische Gesellschaften durch mehr und direktere Demokratie gemeinschaftlich zu machen, ist löblich. Aber ist sie realistisch? Zumindest vertraut er darauf – auch im Blick auf die Müden, Apathischen, Eigennützigen –, daß „der Geschmack an der BürgerInnenbeteiligung gewissermaßen mit dem Essen kommt ...“ Gertrud Grünkorn
Benjamin Barber: „Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen“. Aus dem Amerikanischen von Chr. Goldmann u. Chr. Erbacher-Grumbkow. Rotbuch, Hamburg 1994, 320 S., 42 DM
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