: Der Geist der Sektkorken
Um die Dinge neu zu sehen, müssten wir vergessen, was wir über sie wissen: Vilém Flussers philosophische Abhandlung „Dinge und Undinge“ in Form von Monologen und szenischen Clips im Theater am Halleschen Ufer
Theater sollte einen guten Grund haben. Diese Forderung gewinnt immer dann ungeheure Dringlichkeit, wenn zwei Stunden sitzen, schauen und hören für den Rezipienten in dieser wichtigen Frage kein befriedigendes Ergebnis erbringt. Warum reden und bewegen sich die Tänzer und Schauspieler da auf der Bühne? Ist ein philosophisches und vergnügliches, anschauliches und scharfsinniges Buch über „Dinge und Undinge“ Grund genug?
Ja, wenn die Lektüre zur Schaffung theatralischer Bildwelten anregen würde. Nein, wenn Theatermacher, wie in diesem Fall, nichts weiter im Sinn haben, als nachzuerzählen, was nachzulesen sinnvoller wäre. Götz Schulte muss die Diskussion über Welt und Wahrnehmung eröffnen. Im schmalen Lichtkegel tritt er heraus und spricht kluge Worte. Sein Spiel ist Vortrag und sein Vortrag Spiel. Um die Dinge neu zu sehen, müssten wir vergessen, was wir über sie wissen, sagt er, das Vergessen aber sei schwerer als das Lernen. Tatsächlich sehen wir nichts außer einem Schauspieler, und nähmen wir ihn beim Wort, müssten wir vergessen, was wir über ihn wissen und dann gelänge es, ihn neu sehen. Hhm. Es gelingt nicht wirklich.
Die nächste szenische Einheit, hier Clip genannt: auf einem großen Brett auf dem Bühnenboden, in Anfangsstellung geordnet vier Figuren. Die raumplastischen Kostüme erinnern an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“, allerdings fehlt es an logischer Strenge. Angetrieben von rhythmischen Sphärenklängen beginnen sie zu kreiseln, zu hüpfen und zu schreiten.
Wie sie so in kleinen, wiederkehrenden Bewegungen übers Tablett trudeln, sich von Figuren zu Dingen wandeln und sich später in Menschwerdung und Paarbildung üben, besteht Hoffnung, philosophische Diskurse Gestalt annehmen zu sehen.
Der Abend dauert noch lange, aber anschaulicher wird’s nimmer. Götz Schulte räsoniert als praktizierender Sekttrinker über den Geist des Weines und kommt drauf, dass derselbe über die Entwicklung der Flasche waltet. Sein Vortrag bekommt was didaktisch Dozierendes, als er seine, respektive Vilém Flussers Gedanken auf eine Reihe von Sektkorken bringt. Die Theaterschaffenden um die Regisseurin Ingrid Lucia Ernst widmen sich auf ähnlich ermüdende Weise in weiteren Clips den Dingen Atlas, Wände, Bett und Hände. Sie arrangieren ein Nebeneinander von Reden, Bewegung und Bildern, niemals aber fügen sie den Erkenntnissen des tschechischen Kulturtheoretikers Vilém Flusser Entscheidendes hinzu.
Die Dinge sind die Bedingung unserer Existenz. Was aber, wenn Undinge wie digitale Daten und elektronische Bilder Wirklichkeit simulieren? Keine Antwort auf solche Flusser-Fragen an diesem hilflosen, sich interdisziplinär gerierendem Abend.
„Nico and the Navigators“ bewies mit „Lilli in Puttgarden“ im vergangenen Jahr sehr eindrucksvoll, was theatrales Nachdenken über die Dingwelt bedeuten kann. Die Navigators leisteten, was Ingrid L. Ernst im Namen Flussers nur fordert: Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum ersten Mal.
REGINE BRUCKMANN
tgl. bis 19. 5., jeweils 20 Uhr, im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen