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Der Frieden steht auf der Kippe

Der blutigste Anschlag militanter Siedler seit der Besetzung der Westbank setzt PLO-Chef Arafat und Israels Ministerpräsidenten Rabin unter Druck. Ob die mühsamen Autonomie- verhandlungen wie geplant noch weitergehen können, ist fraglich.

Die Kinder stehen mit Eltern und Großeltern auf dem Dach und schauen in Richtung Stadtmitte. Von dort kommen die Schüsse und Detonationen, die die Kinder besser auseinanderhalten können als die zugereisten Erwachsenen. „Pistole“, „Maschinengewehr“, „Tränengas“, deuten sie die unterschiedlichen Töne, die alle gleichermaßen erschreckend klingen. Jericho, berühmt nicht nur wegen seiner herausragenden Stellung im „Friedensprozeß“ – es gibt niemanden, der davon noch ohne Anführungsstriche spräche –, sondern auch deshalb bekannt, weil es hier während der Jahre der Intifada verschlafen zuging, Jericho ist heute außer Kontrolle.

Am frühen Morgen wurden beim ersten Morgengebet in der Moschee beim Grab von Abraham in Hebron über 50 Menschen getötet, Hunderte schwer verwundet. Das Radio fordert die Menschen wieder und wieder zu Blutspenden auf. Jene Jerichoer, die nicht auf den Dächern stehen und nicht an der Demonstration teilnehmen, versuchen am Telefon zu erfahren, ob Verwandte in Hebron zu Schaden kamen.

„Du kannst mir nicht weismachen“, sagte Rajai Abdo, Manager des Hotels am Platze, ein Moslem und ausgesprochener Verhandlungsbefürworter, „daß das die Tat eines Mannes war.“ Tatsächlich heißt es in den Nachrichten, daß es sich bei dem Täter um den Arzt Doktor Baruch Goldstein aus der jüdischen Siedlung Kirjat Arba bei Hebron handelt. „Das glaubt hier keiner“, sagte Abdo, „das war eine konzertierte Aktion. Wie sonst ist es möglich, daß ein Mann so viele Menschen erschießt – ein einzelner Mann?“ Von Augenzeugen habe er gehört, daß es zumindest vier Personen waren, die auf die gerade niedergeknieten Gläubigen das Feuer eröffneten.

Gesichert scheint nur die Nachricht, daß Baruch sich in seiner Uniform als Reserveoffizier in die Moschee eingeschlichen hat, vorspielend, zum Schutze der Gläubigen seinen Dienst zu tun. Das Radio sendet Ausschnitte aus einem Interview, das Baruch, der den Sicherheitskräften als Aktivist der Kach (extremistische jüdische Bewegung) bekannt ist, vor einigen Monaten gab: „Wir müssen den arabischen Nazis das Handwerk legen, wenn die israelische Armee dazu nicht in der Lage ist.“

„Es ist immer das gleiche“, sagt Achmed Mattar „sie sagen immer, daß es sich um einen Irren handelt, wenn schreckliche Anschläge passieren.“ Tötet jedoch ein Palästinenser, dann sei es die geplante Tat eines Terroristen.

Abdo hält die Türen seines Hotels wegen des Tränengases geschlossen, öffnet sie aber für alle, die Schutz suchen.

„Das ist ein schreckliches Verbrechen gegen unschuldige Menschen“, sagt Saeb Nathif aus dem Fatah-Büro in Jericho, „die Regierung ist dafür direkt verantwortlich. Sie erlaubt den Siedlern, jederzeit bewaffnet herumzulaufen.“ Die Ratlosigkeit steht den Menschen im Gesicht geschrieben. Was es zu tun gibt? Alle Worte wurden schon gesagt, alle Kritik schon geäußert gegen das Friedensabkommen, gegen Rabin und Arafat – der Rest ist Ratlosigkeit angesichts der grauenhaften Tat. – Drei Tage wird in der Westbank, im Gaza-Streifen und in Ost-Jerusalem jetzt gestreikt werden, wobei auch hier eine neue Qualität sichtbar ist. Bedeutet Streik sonst, daß die Geschäfte zwar geschlossen bleiben, einige Verkäufer ihre Waren aber dennoch auf der Straße anbieten, so gibt es heute nichts, gar nichts zu kaufen.

Und noch etwas anderes ist neu. Im Büro der Jerichoer Fatah, der Partei, deren Vorsitzender Arafat persönlich ist und die bislang ausnahmslos hinter ihrem Chef stand, heißt es heute: „Das ist der Punkt, an dem Arafat stoppen sollte. Er muß die Verhandlungen beenden, er darf nicht weitermachen.“

Die Schießereien in Jericho seitens der isralischen Armee hatten am Mittag begonnen, nachdem die lange Predigt in der Moschee zu Ende war und die Palästinenser eine Demonstration in der Stadtmitte begonnen hatten. Die Schüsse waren die Erwiderung auf Steine und Flaschen, zu denen die Palästinenser in Jericho griffen. Julia Albrecht, Jericho

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