Der Fallrückzieher wird 100 Jahre: Orientierungsloser Überschlag

Der Fallrückzieher feiert großes Jubiläum. Uraufgeführt hat ihn Ramon Unzaga, ein baskischer Auswanderer in der südchilenischen Hafenstadt Talcahuano.

Dimitar Berbatov auf den Spuren von Ramon Unzaga Bild: dpa

Es war im Januar 1914. Europa war noch nicht im Krieg, als ein 19-jähriger baskischer Auswanderer in Chile Fußballgeschichte schrieb. Im Stadion Morro in der südchilenischen Hafenstadt Talcahuano setzte der Innenverteidiger Ramon Unzaga erstmals zu einer Aktion an, die der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano 81 Jahre später in diese Worte fasste: „Mit dem ganzen Körper durch die Luft, den Rücken zum Boden, schossen die Beine mit einem plötzlichen Überschlag den Ball nach hinten.“

Unzaga hatte den Fallrückzieher gezeigt. Zeitgenössische Chronisten beschreiben den Armutsmigranten aus dem Baskenland, zwölfjährig mit seinen Eltern nach Südamerika gekommen, als „exzellenten Schwimmer und Leichtathleten über 100 Meter, 110 Meter Hürden, Hoch- und Weitsprung“. Unzaga machte zuerst in der Betriebsmannschaft der Kohlenmine der deutsch-chilenischen Unternehmerdynastie Schwager auf sich aufmerksam. Später wechselte er in die Fußballschule des wichtigsten Marinestützpunkts Chiles. Nach dem Namen der Schule, La Chorera, benannten die ersten Augenzeugen denn auch das neu gesehene Kunststück.

Glaubt man den Chroniken, dann zeigte Unzaga seine Kreation sogar mehrfach in einem einzigen Spiel. Das stärkte seinen Ruf als Athlet und brachte ihm Nominierungen und die Kapitänswürde für Chiles Nationalmannschaft ein. Als er 1920 bei den Südamerikameisterschaften wieder einmal in die Trickkiste griff, staunten die mitgereisten Berichterstatter aus den großen Fußballnationen Argentinien, Brasilien und Uruguay nicht schlecht, und nannten das Kunststück „la chilena“ (die chilenische Art).

Dagegen regte sich in der Vergangenheit immer wieder Protest aus Peru. Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa verwies auf mündliche Überlieferungen der sogenannten Chalacas in Fußballspielen zwischen britischen Seeleuten und lokalen Sportlern im Hafen Callao vom schon Ende des 19. Jahrhunderts. Von dort aus soll sich die „Chalaca“ in die chilenischen Hafenstädte verbreitet haben.

Aber auch das Mutterland des Fußballs kann Geburtsrechte am „bicycle kick“ geltend machen. Ein Bild des 1872 anlässlich des ersten offiziellen Länderspiels der Fußballgeschichte zwischen England und Schottland erschienen Sportmagazins The Graphic zeigt einen bemützten Spieler in horizontaler Lage, dessen rechtes Bein sich auf Höhe des Kopfes befindet und im Begriff ist, den sich in der Luft befindlichen Ball zu treffen. Waren schon Schotten und Engländer Akrobaten? Und hatten die Hafenarbeiter von Callao sich den Trick von den kickenden Seeleuten aus Übersee abgeschaut?

Fallrückzieher als Abwehrmaßnahme

Nichts ist gewiss. Selbst wenn visuelle und orale Überlieferungen weiter zurückreichen, so legt die schriftliche doch den Januar 1914 als den Geburtsmonat fest. Und schön ist die Geschichte des Migranten, der im Bergwerk schuftete und dann seine neue Nation zum immerhin dritten Platz bei den Kontinentalmeisterschaften führte, doch auch.

Dass Unzaga „auf die chilenische Art“ Tore erzielte, ist nicht bekannt. Als Verteidiger hatte er den Ball auch eher aus dem eigenen Strafraum zu befördern.

Weiter vorn setzte sieben Jahre später Landsmann David Arellano den Trick ein. Bei einer Tournee des chilenischen Hauptstadtklubs Colo-Colo in Spanien erzielte er den ersten bekannt gewordenen Treffer auf diese Art und Weise. Die „chilena“ war in Europa angekommen.

Den Pionieren war aber wenig Glück beschieden. Während der in Chile geborene Arellano wenige Tage nach seinem Traumtor infolge eines Zusammenpralls mit einem Gegenspieler in Spanien starb, riss den gebürtigen Basken Unzaga im Alter von 29 Jahren ein Herzinfarkt aus dem Leben.

Bei Schiedsrichtern, diesen Pingelbaronen im Spiel der freien Kräfte, erscheint der Widerstand gegen diese Schwerkraftsaufhebungsübung noch nachvollziehbar. Der einstige Fifa-Schiedsrichter Volker Roth entschied bei einem Traumtor von Karl-Heinz Rummenigge im Uefa-Cup-Spiel zwischen Inter Mailand und Glasgow Rangers im Jahr 1984 auf gefährliches Spiel. „Das war das schönste Tor meiner Karriere – und er gibt es nicht!“, ärgerte sich Rummenigge.

Er verweigerte Roth, zwei Jahre später Referee des WM-Eröffnungsspiels, sogar das vorher schon zugesicherte Trikot. „Roth hat mir das schönste Tor meiner Karriere weggenommen. Da konnte ich ihm doch nicht mein Trikot geben“, meinte Rummenigge der Gazzetta dello Sport.

Fallrückzieher als Fehlerkorrektur

Gegen den Fallrückzieher ist überraschenderweise aber auch Offensivmagier Arrigo Sacchi, der mit dem AC Mailand große Erfolge feierte. Eine solche Aktion stellt für ihn lediglich die Korrektur eines Fehlers dar. „Wenn ein Spieler sich korrekt positioniert, hat er das Tor vor sich. Das ist die Ausgangslage, aus der er eine Abwehr am besten in Bedrängnis bringen kann. Die Akrobatik dient allenfalls, einen Berechnungsfehler in der eigenen Position auf dem Spielfeld zu korrigieren“, schrieb er in der Gazzetta dello Sport in einem Beitrag zu hundert Jahren Fallrückzieher.

Er sparte auch nicht mit Kritik an einstigen Stars. „Gianluca Vialli war sehr akrobatisch, das ist unbestritten. Aber wenn ein Spieler sich oft in dieser Position befindet, bedeutet das, dass er sich nicht richtig auf dem Platz zu orientieren weiß“, meinte Sacchi.

Zum Glück ist dies eine Minderheitenposition. Paolo Pulici, dreifacher Torschützenkönig der Serie A, der selbst einige Treffer per Fallrückzieher erzielte, bringt in seiner Fußballschule erst auf Matten und später ohne diese Landungshilfe Kindern die richtige Rotation bei.

Für die Nachfolger von Klaus Fischer, der mit seinem WM-Tor in der „Nacht von Sevilla“ den Fallrückzieher in Deutschland salonfähig machte, von Hugo Sánchez, der an seine akrobatischen Treffer noch den obligatorischen Jubelsalto anschloss, und von Zlatan Ibrahimović, der England mit einem Fallrückzieher jenseits der Strafraumgrenze düpierte, ist also gesorgt.

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