■ Der Fall der Enklave Srebrenica kommt nicht überraschend: Europa mit Schönheitsfehlern
Am meisten überrascht die Überraschung, die in vielen Kommentaren und Reaktionen auf den Fall von Srebrenica zum Ausdruck kommt. Diese Entwicklung war seit Monaten absehbar, und sie wurde vorausgesagt. Offen war lediglich, ob die Unprofor diese ostbosnische Schutzzone bereits vor oder erst in direkter Folge der serbischen Offensive aufgeben würde. Auch die nächsten Etappen sind absehbar: der Fall von Zepa, Goražde sowie möglicherweise Bihać – jeweils verbunden mit dem Abzug der Blauhelme.
Dies alles ist die logische Folge einer Politik von EU, der USA und Rußlands, die seit Beginn der serbischen Aggressionen gegen Kroatien im Sommer 1991 und gegen Bosnien im April 1992 lediglich ein gemeinsames Interesse eint: containment, Eindämmung. Solange der Krieg auf Bosnien und Kroatien begrenzt bleibt, glaubt man in Washington, Moskau und Brüssel, sich diesen kleinen Schönheitsfehler der „neuen Weltordnung“ auch in Europa leisten zu können. Es gab nie ein kohärentes Konzept des Einsatzes militärischer, politischer und ökonomischer Mittel, um zunächst die heißen Kriege zu beenden und dann eine politische Lösung durchzusetzen. Die diversen und allesamt schon am Verhandlungstisch gescheiterten Pläne zur ethnischen Aufteilung Bosniens verdienen den Namen „Friedensplan“ nicht. Die UN-Truppen haben sich zwar große Verdienste bei der humanitären Versorgung der Zivilbevölkerung sowie, wenn auch begrenzt, bei deren Schutz erworben. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Entsendung der Unprofor durch den Sicherheitsrat nur eine Alibi- Übung war, die das mangelnde Engagement der internationalen Gemeinschaft kaschieren sollte.
Nach den direkt vom Krieg betroffenen Menschen in Bosnien trägt die UNO den größten Schaden. Zu Unrecht. Ihr in diesen Tagen wieder vielfach beschworenes Versagen und Zögern ist das Versagen und Zögern ihrer einflußreichsten Mitgliedsstaaten: Vereinigte Staaten, Rußland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland. Für die Regierungen dieser Staaten ist der Stellenwert der Kriege in Bosnien und Kroatien und das hunderttausendfache Leid ihrer BürgerInnen im Vergleich zu anderen Problemen nicht besonders hoch. Die künftige Integration der EU, ihre gemeinsame Währung, diverse Handelsfragen – all dies scheint wichtiger. Zu Bosnien verbreiten die fünf Kontaktgruppen-Staaten statt dessen seit Monaten die verlogene Behauptung von der gemeinsamen Haltung. Die Kalküle von Karadžić und Milošević, so viel scheint sicher, werden wie in den letzten drei Jahren auch künftig voll aufgehen. Andreas Zumach, Genf
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