Der Fall Nikitin findet kein Ende

■ Gericht spricht Umweltschützer nicht frei, hält aber Anklage für unzureichend. Europäischer Menschenrechtsgerichtshof angerufen

St. Petersburg/Oslo (taz) – Der Rechtsskandal um den russischen Umweltschützer und Ex-U-Boot- Kapitän Aleksandr Nikitin geht in die nächste Runde. Am Donnerstag hatte der Oberste Gerichtshof nach vierstündiger Verhandlung hinter verschlossenen Türen die Entscheidung des Amtsgerichts in St. Petersburg bestätigt: Nikitin wird nicht freigesprochen.

Da die vorgelegte Anklage aber auch nicht für eine Verurteilung reicht, müssen Staatsanwaltschaft und Geheimdienst neue Fakten vortragen, bevor der Prozeß weitergehen kann. Am 29. Oktober 1998 hatte sich das erstinstanzliche Gericht geweigert, das Verfahren gegen Nikitin, Mitarbeiter der norwegischen Umweltorganisation „Bellona“, auf der Grundlage der ursprünglichen Anklage weiterzuführen. Diese hatte ihm auf Veranlassung des russischen Geheimdienstes FSB der Spionage und des Geheimnisverrats bezichtigt: Nikitin hatte an einem 1995 veröffentlichten Bericht mitgearbeitet, der die atomaren Gefahren durch die russische Nordflotte aufgelistet hat.

Den Stopp des Verfahrens hatte das Gericht damals damit begründet, daß die Staatsanwaltschaft unzureichend ermittelt habe: Die Anklage sei „so unklar“, daß Nikitin keine Möglichkeit habe, sich „mit den Mitteln zu verteidigen, die er gesetzlich haben muß“. Gegen diese Entscheidung hatten alle Seiten Rechtsmittel eingelegt. Die Staatsanwaltschaft, da sie eine Fortsetzung des Verfahrens auf der Grundlage der vorgelegten Anklageschrift will. Niktitins Verteidiger, weil er der Auffassung ist, daß eine unzureichende Anklage zu einem Freispruch führen muß und nicht ein neues Verfahren zur Folge haben kann. Der Oberste Gerichtshof wählte einen Mittelweg und bestätigte einfach die Entscheidung vom Oktober.

„Ich hätte von einem Gericht dieses Niveaus eigentlich erwartet, daß es einen Beschluß in der Sache selbst zu fassen in der Lage ist“, sagte Nikitin hinterher. Entscheidung und Begründung des Gerichts in St. Petersburg hatten zunächst ein für das russische Rechtswesen erstaunlich hohes Maß an Unabhängigkeit offenbart. Nikitin hatte sich daher durchaus Chancen für einen Freispruch augerechnet.

Prozeßrechtlich schwierig wird es nun, da in Rußland nach wie vor das Strafprozeßrecht von 1950 gilt, obwohl das Land die Europäische Menschenrechtskommission im vergangenen Jahr angenommen hat. Das russische Recht kennt jedoch einen Freispruch mangels Beweisen nicht. Ein Gericht, das einen Angeklagten freisprechen will, muß vielmehr jeden einzelnen Anklagepunkt widerlegen. Eine Aufgabe, die angesichts der umfassenden und unverständlichen Anklage juristisch nahezu unmöglich erscheint. Denn die Anklage gegen Nikitin fußt teilweise auf geheimen militärinternen Rechtsvorschriften und mit rückwirkender Kraft ausgestatteten Gesetzen. Oder wie es die Moscow Times ausdrückte: „Eigentlich muß Nikitin freigesprochen werden, wenn die Staatsanwaltschaft keine ausreichende Anklage gegen ihn hat. Aber Nikitin kann nicht freigesprochen werden, wenn die Staatsanwaltschaft keine ausreichende Anklage vorlegt.“ Da der Oberste Gerichtshof sich nicht dazu durchringen konnte, die vom stalinistischen Strafprozeßrecht geforderte Prozedur aufzuheben und im Nikitin-Prozeß der Forderung von Artikel 6 der Menschenrechtskonvention zu folgen, wonach so lange unschuldig ist, wem nicht das Gegenteil nachgewiesen wird – auch Artikel 49 der russischen Verfassung von 1993 enthält eine ähnliche Formel, die aber prozeßrechtlich noch nicht umgesetzt ist –, droht das Nikitin- Verfahren auf eine Spirale ohne Ende hinauszulaufen. Das befürchtet Nikitin schon seit vergangenem Jahr. „Ich kann mich schon mal darauf vorbereiten, daß mich die Geschichte mein ganzes Leben lang begleitet“, sagte er der Time.

Da der Staatsanwaltschaft kein Zeitlimit gesetzt wurde, bis zu dem sie eine neue Anklage vorlegen muß und auch das Gesetz entsprechende Fristen nicht kennt, droht tatsächlich die Angelegenheit auf die lange Bank geschoben zu werden.

Wie John Gauslaa, juristischer Berater der Umweltschutzorganisation „Bellona“ sagte, habe er bereits eine Klage beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof vorbereitet. Nikitins Einverständnis vorausgestzt, werde diese Klage spätestens im März in Straßburg eingereicht werden. Gauslaa: „Es erscheint mir völlig sicher, daß Rußland wegen einem Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt wird. Einer solchen Entscheidung muß Moskau dann folgen, oder es verliert seine Mitgliedschaft im Europarat.“ Reinhard Wolff