Der Fall Amadeu Antonio als die Blaupause für weitere fremdenfeindliche Gewalt: Wir können uns leider nicht erinnern
Berlin auf Blättern
von Jörg Sundermeier
Am 24. November 1990 gab es in Eberswalde-Finow eine Abschiedsfeier für ehemalige Vertragsarbeiter der DDR. Sie fand im Hüttengasthof statt, einem der wenigen Etablissements in der brandenburgischen Stadt, in der die, die einst aus den sozialistischen Bruderstaaten gerufen wurden und nun nur noch als Menschen zweiten Grades angesehen wurden, ungestört feiern konnten. Doch an diesem Novembertag zogen rund 50 Neonazis vor dem Gasthaus auf und erwischten noch ein paar der Feiernden, nachdem die Polizei die Party bereits wegen „Gefahr in Verzug“ beendet hatte. Für einen Gast endete das tödlich, Amadeu Antonio wurde ins Koma geprügelt, wenige Tage später erlag er seinen Verletzungen. Die Polizei schritt zunächst nicht ein.
Heute ist eine antirassistische Stiftung nach diesem ersten Opfer benannt, daher ist sein „Fall“ immer noch sehr berühmt. Doch Amadeu Antonio ist nicht allein, viele andere wurden in den folgenden Jahren ebenfalls Opfer rassistischer Gewalt in Brandenburg.
In dem Band „Generation Hoyerswerda“, den Heike Kleffner und Anna Spangenberg herausgegeben haben, beginnen mehrere Texte mit der Schilderung dieses ersten Mordes, wird darin schon die absehbare Eskalation deutlich und die Überforderung der Polizei, um nicht von ihrer schweigenden Zustimmung zu sprechen, die Vertuschung, das Herabspielen des Geschehenen durch lokale Politiker, schließlich das Vergessen.
Heike Kleffner und Anna Spangenberg wollten ursprünglich analysieren, inwieweit die neonazistischen Szene Brandenburgs die terroristischen Aktionen des NSU ideell oder sogar unmittelbar unterstützt hat. Doch bei der Untersuchung der militanten Netzwerke stellte sich heraus, dass auch andere, dem NSU nicht unbedingt zugewandte Neonazi-Netzwerke beachtet werden mussten – die bis heute aktiv sind, schließlich, wie die Herausgeberinnen bedauern resümieren, hat es „noch nie in der 25-jährigen Geschichte“ des Landes Brandenburg „so viele Demonstrationen von Neonazis gegeben wie 2015“.
Daher erklärt das Buch nun, warum in der näheren Umgebung wie am Stadtrand von Berlin Flüchtlingsheime brennen und Flüchtlinge um ihr Leben fürchten müssen. Gruppen wie Blood & Honour oder die1. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg werden ebenso untersucht wie die neonazistische Musikszene. Die hat lange davon profitiert, dass man den Nazis in vermeintlich wirksamer Sozialarbeit ganze Jugendzentren samt Probenkeller überließ.
Im Nachhinein will sich übrigens nie jemand daran erinnern, was er getan oder beobachtet haben soll. Großer Verdienst des Buchs: dass es noch einmal aufzeigt, was die Nazis lieber vergessen sein lassen wollen.
Daher werden die politischen Fehler der Lokal- und Landesregierungen genau verfolgt, auch um zu zeigen, dass sich in diesem Bereich doch etwas getan hat. So zieht die ehemalige Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, die von 1991 zehn Jahre lang zum Ärger vieler Polizisten ihrem Job nachging, ein Fazit – „Der Gegenwind ist stärker geworden“, das ein wenig Hoffnung macht.
Dass aber die Neonazis jetzt ganze Strukturen nicht mehr im Handumdrehen übernehmen können, heißt nicht, dass sie weniger „erfolgreich“ sind. Viel mehr haben sie sich an einigen Orten regelrecht festgesetzt und sind dort mitsamt ihrer Militanz zum politischen Normalfall geworden.
Heike Kleffner und Anna Spangenberg (Hg.): „Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg“. Be.bra Verlag Berlin 2016, 304 Seiten, 20 €
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