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■ Der Ex-Militante Adriano Sofri wurde wegen Polizisten- mordes verurteilt. Eine italienische Dreyfusaffäre?„Eine kafkaeske Situation“

Im Januar wurde Adriano Sofri, Gründer der linksradikalen Bewegung Lotta Continua, zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Anklage: Anstiftung zum Mord an dem Polizeikommissar Calabresi 1972, der im Verdacht stand, am Tod eines verhafteten Anarchisten schuldig zu sein. Das juristisch höchst zweifelhafte Urteil stützte sich ausschließlich auf die fragwürdigen Aussagen des Kronzeugen Marino. Die linke Tageszeitung „Il Manifesto“ schrieb: „Das ist kein Justizirrtum, sondern politische Rache.“

taz: Herr Sofri, Sie sind jetzt 54 Jahre alt. Erwarten Sie, noch einmal aus dem Gefängnis herauszukommen?

Adriano Sofri: Natürlich wünsche ich mir das. Aber ich bin mir absolut nicht sicher.

Sind Sie schuld am Tod des Polizisten Calabresi?

Natürlich nicht.

Wer dann?

Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, daß es Linke waren. Sie haben das gemacht, weil sie glaubten, es sei eine gerechte Sache. Ich schließe aber aus, daß es Leute von Lotta Continua waren.

Wie können Sie das ausschließen?

Weil ich Lotta Continua war.

Das war eine Sponti-Bewegung, also nicht straff organisiert wie etwa stalinistische Organisationen. Wie konnten Sie wissen, was in Lotta Continua vorgeht?

Wir liebten die Spontaneität. Aber wir hatten eine organisierte Führung, und ich war der Leader. Man hat uns angeklagt, wir hätten im Exekutivkomitee über den Mord an Calabresi abgestimmt. Das ist absolut verrückt. Steht aber so im Urteil.

Die Mehrheit der italienischen Öffentlichkeit sieht das Urteil als Skandal an. Es hätte keine Beweise gegeben, keine Indizien, bloß Marianos Aussage. Ist das Urteil ein Justizirrtum? Oder eine Verschwörung?

Ich glaube nicht an eine Verschwörung. Nicht zuletzt auch aus einem Grundsatz heraus: Mir ist lieber, keine Verschwörung anzunehmen, auch wenn es eine ist, als eine Verschwörung zu sehen, wo keine existiert. In diesem Fall glaube ich, daß im Verlaufe der Prozesse gegen mich seit 1988 (Sofri wurde schon einmal verurteilt, das Urteil wurde aber revidiert, A. d. Red.) immer mehr Leute Interesse gefunden haben, Lotta Continua zu verurteilen. Zuerst wollte man einen ungeklärten Fall lösen, und man hat vielleicht sogar geglaubt, eine Lösung zu haben. Dann fanden sich Leute, die sich an Lotta Continua revanchieren wollten, die als die stärkste und arroganteste Organisation der 68er Bewegung galt. Und dann glaubten Teile der Justiz, an dem Irrtum festhalten zu müssen.

Wer will sich revanchieren?

Mein Fall ist eine brutale Absurdität. 1976 gab ich die Politik auf, wie man das Rauchen aufgibt. Ich ging sozusagen in die politische Pension. Viele verließen damals die revolutionäre Bewegung, und es waren die besten Köpfe dieser Generation. Die machten dann normale Karrieren. Mit der Folge, daß nun gegen die „Lotta-Continua-Lobby“ geschimpft wird, deren Leute die besten Posten innehätten. Die rechtsstehende Zeitung Il Giornale etwa schrieb auf der ersten Seite: „Lotta Continua besetzt alle Positionen in Politik, Kultur und Medien. Jetzt auch noch im Gefängnis.“ Das ist natürlich verrückt, aber es zeigt, wie in bestimmten Kreisen gedacht wird. Es ist eine durch und durch kafkaeske Situation.

Als Hinweis für Ihre Schuld wurde immer ein Satz aus der Zeitung von Lotta Continua nach dem Calabresi-Mord zitiert: „La giustizia è fatta“ – „Die Gerechtigkeit hat sich durchgesetzt.“

Das wird immer zitiert, wurde aber nie geschrieben. Ich habe die Resolution von Lotta Continua verfaßt. Und da stand erstens, wer Calabresi war, und was er beim sogenannten Selbstmord des Anarchisten Pinelli für eine Rolle gespielt hat. Zweitens, daß der politische Mord kein Instrument in unserem Befreiungskampf sein kann. Und drittens, daß diese Überlegungen uns nicht zwingen, Trauer für den Tod von Calabresi zu bekunden, weil sein Tod von den Unterdrückten als gerecht empfunden werde. Das war eine diplomatische Resolution. Heute klingt das vielleicht furchtbar. Aber damals wurde ich innerhalb von Lotta Continua dafür kritisiert, daß das Kommuniqué zu weich sei. Es waren andere Zeiten.

Da hört man klammheimliche Freude heraus.

Ja, damals hat es in ganz Italien klammheimliche Freude gegeben. Der inzwischen verstorbene Schriftsteller Leonardo Sciascia schrieb in einem Artikel, man könne das Kommuniqué kritisieren, aber es stelle nicht den Beweis meiner Schuld, sondern meiner Unschuld dar.

Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihrer revolutionären Vergangenheit?

Eine sehr gute. Wissen Sie, mein Bruch mit ihr war sehr radikal. Ich war Führer von Lotta Continua in einem Ausmaß, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Ich konnte meine Position nicht in dem Sinn verändern, daß ich ein Halb-Leader geworden wäre oder ein einfaches Mitglied. Ich konnte nur verschwinden. Ich verschwand.

Haben Sie nicht in Ihrer revolutionären Zeit Fehler gemacht?

Natürlich. Ich habe über sie nachgedacht, über sie geschrieben. Aber das ist noch lange kein Grund, eine schlechte Beziehung zu seiner eigenen Vergangenheit zu haben. Ich blicke nicht mit Triumph zurück. Unsere Bewegung war nicht so wichtig. Wir hatten einen kleinen Anteil am Abenteuer unserer Generation. Es war ein Sturm im Wasserglas. Aber es war unser Sturm.

Der Sturm hat Sie geprägt.

Aber vielleicht noch prägender waren die Reisen, die ich nach meiner politischen Abdankung unternehmen konnte. Ich war Ende der 70er in Polen und half ein bißchen mit, die Solidarność zu gründen. Ich erlebte den Irak-Iran-Krieg. Ich lebte drei Jahre während des Bosnien-Krieges in Sarajevo. Und in Tschetschenien war ich auch (Sofri vermittelte die Freilassung von italienischen Geiseln, A. d. Red.). Als wir jung waren, glaubten wir, daß Krieg kein Teil unseres Lebens sein werde. Das war nicht wahr. Nichts war wahr, was wir über unsere Zukunft dachten.

Wie fühlen Sie sich hier im Gefängnis?

Gut. Vor allem verbessert sich meine physische Kondition von Tag zu Tag. Ich spiele täglich mit Häftlingen, die so alt wie meine Söhne sind, im Gefängnishof Fußball. Natürlich weiß ich, daß meine Situation absolut verrückt ist. Und ich bin zornig. Aber ich habe mich unter Kontrolle. Finden Sie nicht? Interview: Georg Hoffmann- Ostenhof, Thomas Migge, Pisa

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