Mon Dieu Mondial: Der Engel der Utopie
■ Szenen einer WM: Ein-, zweimal gibt es Traumfußball, darum schaut man alles an
Hans, der Rentner von Gegenüber, hat seinen Balkon beflaggt. Er trägt ein lebenslustiges Hawaiihemd. Stunden vor Anpfiff des deutschen Spiels nimmt er seinen Ghettoblaster auf den Balkon und beschallt die Gegend mit deutschen Schlagern aus den 60ern. Immer wieder „Schwarzbraun ist die Haselnuß“ und „Der lachende Vagabund“. Dies ist meine zweite WM mit Hans. Noch eine Stunde nach dem Spiel wirft er Knallfrösche auf die türkischen Jugendlichen unter dem Balkon, die das sehr gern haben. Er sieht alles. Ich sehe alles. Freunde halten meine Anteilnahme für den Ausdruck anderweitiger Mängel.
Doch Traumfußball hat nichts mit Mangel zu tun. Traumfußball ist reine Schönheit. Traumfußball ist gelingendes Leben; da schaut der Engel der Utopie mal nach vorn und nicht immer nach hinten. Ein-, zweimal während einer WM gibt es Traumfußball. Um ihn nicht zu verpassen, guckt man sich alles an.
Es gibt wichtigere und unwichtigere Mannschaften; Mannschaften, die ich gern habe, und Mannschaften, die ich nicht mag, und eine Mannschaft mit drei Umlautspielern, die ich mittlerweile regelrecht hasse. Besonders wegen der Machenschaften des einen Umlautspielers, mit denen er den kleinen, sympathischen „Professor“ ausbootete. Eine Mannschaft liebe ich. Wenn Rumänien verliert, ist für mich die WM erst mal zu Ende. Wie vor vier Jahren. Mit ihren sommergelben Haaren liefern die Rumänen ihre ganz eigene „Blade Runner“-Version. Sie würden dies „Ich habe Dinge gesehen“ anders sagen. Es hätte aber den gleichen Sinn. Das deutet alles auf ein tragisches Ende, schließt aber auch die Katharsis nicht aus.
In den Gesichtern der Spieler der einstmals großen Mannschaft lag Trauer darüber, daß sie nichts mehr zuwege brachten. Selbst Iwanow! Von Stoitschkow nicht zu reden (Bulgarien). Daß sie den Sieg gegen die Deutschen noch aus der Hand gaben, ließ sie noch souveräner erscheinen. Sie zeigten den Deutschen, daß sie besser sind, dann demütigten sie die Unsrigen mit übertriebenen Geschenken. Jetzt sind sie schon fort (Jugoslawien). Die Deutschen sind zu dumm, das zu verstehen. Herzlose Deppen.
Inzwischen hat fast jeder Imbiß einen Fernseher an der Decke hängen. Da steht man mit einer Cola- oder Bierdose in der Hand (“You'll never walk alone“) und hat viel Raum, um auch zu schimpfen über Ungerechtigkeiten, die gerade im Fernseher passieren. Stehend kann man viel besser gucken; besser gestikulieren, reden und denken. Und es ist nicht so voll im Imbiß. Die aber, die da sind, wissen meist viel vom Fußball. So kommt man ins Gespräch. Das ist das Tolle. Und fühlt sich wie woanders zu Haus. Der Osten sei zwar rassistisch, sagt man; im Westen findet man allerdings viel seltener normale deutsche Alkoholiker, die sich auch noch im Fußball auskennen und in türkischen Imbissen in Ostberlin Stammgäste sind.
Der Mann aus Nigeria hatte sich zugleich sommerlich lässig und festlich gekleidet und saß am Fenster eines kleinen Kreuzberger Pizza-Imbisses. Nach zwölf Minuten hoffte er noch ein bißchen. Später lachte er immer komisch, wenn ein Tor fiel. Ganz traurig war er hinter seinem Lachen und lobte die dänische Abwehr. Wehmütig lächelte sein Blick vergeblich bei den Tricks von Okocha. Danach kam ein Spanier vorbei, der ihn beschimpfte und antisemitische Fußballverschwörungstheorien aufstellte. „Warum hast du so schlecht gespielt?!“ Detlef Kuhlbrodt
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