Nebensachen aus Madrid: Der Dicke
■ In Spanien hat Weihnachten bereits angefangen – vorm Fernseher
Nicht etwa Heiligabend, sondern der 22. Dezember ist der wichtigste Tag des spanischen Weihnachtsfestes. Um neun Uhr früh heißt es, mit Notizblock und Bleistift vor der Glotze zu hängen: heute wird die Weihnachtslotterie ausgelost.
„El Gordo“, der Dicke, heißt der Hauptgewinn. Nach etwas mehr als einer Stunde Neben-, Klein- und Kleinstgewinne ist es soweit: „56169“, singt Raquel. „300 Millionen Peseten“ – das sind 3,5 Millionen Mark –, antwortet ihr Klassenkamerad David, dem Stimmbruch verdächtig nah.
32 Schüler und Schülerinnen des Madrider Gymnasiums San Ildefonso, eine Einrichtung für Halbwaisen und sonst vom Leben geschlagene Kinder, spielen Jahr für Jahr Glücksfee an der Lostrommel mit ihren 66.000 Kugeln. Jede Nummer ist 120mal zum Preis von 30.000 Peseten (350 Mark) verkauft worden; Zeitungskioske, Bars, Geschäfte, Belegschaften, Schulen, Freundescliquen verkaufen die Nummern gestückelt weiter. In Zehntel oder noch kleineren Anteile gelangen sie in die Hände einzelner Spieler. Jeder Spanier gibt im Schnitt 70 Mark für sein Stückchen vom vermeintlichen Glück aus.
Der Lotterieprofi versucht so viele Nummern wie möglich über das ganze Land verstreut zu ergattern. Spanien wird zu einer einzigen großen Tauschbörse. Ist Fortuna hold, beglückt der Gordo oder einer der anderen Preise auf diese Art und Weise ganze Straßenzüge oder Dörfer.
Gestern wurden zwei Milliarden Mark ausgeschüttet. Der „Gordo“ ging nach Valencia. Sergi Fernandez wurde am Freitag erst von der Polizei aus einem besetzten Haus im Zentrum geräumt – nun ist er Sonntag stolzer Gewinner von 50.000 Mark. Sein Stückchen Lotterie hatte er, wie viele seiner Nachbarn auch, an einem Stand auf dem Wochenmarkt erstanden. Jetzt will er sich ein Wohnmobil kaufen und ganz Spanien abzuklappern. „Und nie wieder die Frage: Wo schlafe ich heute Nacht?“ sagt Sergi – zufrieden, daß zumindest das Glück beim Spiel keine sozialen Unterschiede kennt. Oder doch? 1992 traf das Glück den spanischen König Juan Carlos. Sein Decimo mit der Nummer 00.000 brachte ihm 250 Mark. Nur ein Jahr später winkte Fortuna der Zentrale der kommunistischen Gewerkschaft CCOO: Sie gewann 1,5 Millionen Mark.
Seit die Lotterie 1763 von König Carlos III. eingeführt wurde, gewinnt einer alle Jahre wieder: Vater Staat. Denn nur 70 Prozent der Lotterieeinnahmen werden wieder ausgespielt, die Rest geht ans Finanzamt. Dieses Jahr kriegt es über eine Milliarde Mark – zweifelsohne der „Supergordo“. Reiner Wandler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen