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Archiv-Artikel

Der Deutsche ist verrückt

Trotz einer 1:2-Niederlage gegen Russland zieht Griechenland ins Viertelfinale ein und feiert Otto Rehhagel

FARO dpa ■ Trainer-Guru Otto Rehhagel hat Unfassbares vollbracht, doch noch nie nahm ihn ein großer Erfolg so mit. Auch am Tag nach Griechenlands historischem Einzug in das EM-Viertelfinale konnte der 65-Jährige das Glück der Hellenen kaum fassen. „Das ist wie ein Traum“, schwärmte „König Otto“. Alles, was nun noch kommt, betrachtet er als Kür: „Wir haben nichts mehr zu verlieren. Wir haben alles gewonnen. Die Mannschaft muss sehen, dass sie hier etwas Großes geschafft hat. Und sie kann jetzt noch viel mehr leisten.“ Während Rehhagel nach der 1:2-Niederlage des EM-Außenseiters im letzten Gruppenspiel gegen Russland den Spielern einen freien Tag mit ihren Familien verordnete, nahm er am Montagabend die möglichen Gegner Frankreich, England und Kroatien unter die Lupe.

Grenzenlos war die Freude auch in der Heimat der Hellenen nach der „süßesten Niederlage in der Geschichte des griechischen Fußballs“ (Eleftherotypia). Zigtausende feierten allerorten bis zum nächsten Morgen auf den Straßen. Unmittelbar nach dem Abpfiff des Spiels gegen Russland strömten trotz der Niederlage (1:2) tausende Menschen ins Zentrum Athens. Leuchtkugeln zischten in die Luft. Überall wehten blau-weiße Fahnen. Und immer wieder wurde der Spruch skandiert: „Er ist verrückt, er ist verrückt, der Deutsche.“

„Ich weiß aber nicht, was in Griechenland los ist“, meinte derweil Otto Rehhagel. Zu groß war und ist die Konzentration auf die Titelkämpfe – die ersten für die Griechen seit 24 Jahren. „Wenn wir mit unseren Verwandten und Freunden in der Heimat telefonieren, sagen die uns nur, dass in Griechenland Ausnahmezustand herrscht“, ergänzte Co-Trainer Ioannis Topalidis, der in Deutschland in der dritten Liga spielte sowie eine Zeit lang als Assistenztrainer bei Hertha BSC engagiert war.

„Der griechische Fußball hat heute einen unheimlichen Imagegewinn erzielt“, betonte derweil Rehhagel immer und immer wieder. Mit dem überraschenden 2:1-Sieg im Eröffnungsspiel gegen Gastgeber Portugal und dem 1:1 gegen Spanien hatten „seine Jungs“ den Grundstein für die „Mega-Sensation“ gelegt. So reichte gegen die bereits vorzeitig ausgeschiedenen, aber toll aufspielenden Russen eine Niederlage mit einem Tor Differenz, da Spanien seinerseits gegen Portugal mit 0:1 verlor. Als Gruppenzweiter treffen die Griechen am Freitag auf den Ersten der Gruppe B.

Den entscheidenden Treffer für die Rehhagel-Truppe erzielte Zisis Vrizas kurz vor der Pause (43.), nachdem die Russen vor 24.347 Zuschauern nach nur 17 Minuten 2:0 geführt hatten. „Es war ein Tanz auf der Rasierklinge“, meinte Rehhagel. „Herzinfarkte in ganz Griechenland während des Thriller-Spiels“, schrieb die Sportzeitung Goal in ihrer Montagausgabe. „Von der Hölle ins Paradies“, titelte Eleftherotypia. „Der 20. Juni wird in unseren Herzen unvergesslich bleiben“, meinte die politisch orientierte Zeitung Apogewmatini.

So richtig haben die Hauptdarsteller des dramatischen Schauspiels, das beinahe als Tragödie zu Ende gegangen wäre, ihren Erfolg allerdings noch nicht realisiert. „Das passiert wohl erst, wenn das Ganze vorbei ist“, meinte Co-Trainer Topalidis. Am liebsten würden die hellenischen Fußball-„Götter“ aber bis zum 4. Juli, dem Tag des Endspiels, weiter auf Wolke sieben schweben. „Es ist nun alles möglich“, meinte Werder Bremens Edelreservist Angelos Charisteas. Coach Rehhagel erfüllte das bislang Erreichte bereits mit großer Genugtuung. „Früher haben die deutschen Journalisten immer gesagt, der [Rehhagel] kann nur in Bremen arbeiten. Ich kann überall arbeiten. Das habe ich gezeigt“, sagte er mit erhobener Stimme.