■ Wie der neue Geist über einen Jungfußballer kam: Der Debütantenball
Seit die deutsche Nationalmannschaft im vergangenen Jahr sogar Gegner vom Kaliber Moldawiens und Georgiens niedergemacht hat, geht die Rede vom „neuen Geist“, der in das Team gefahren sei und der überdies noch „stimmt“.
Wie man sich diesen Prozeß in etwa vorstellen darf, das offenbarte jüngst das Fachblatt Kicker. In Tagebuchform hat man dort zurechtfabuliert, wie der Rostocker Debütant René Schneider beim Länderspiel in Südafrika Teil und Träger besagten „neuen Geistes“ geworden sein soll.
Es begann – was beginnt nicht damit? – mit einem Kribbeln: Es kribbelte immer mehr ..., als die Nationalspieler [...] in den Bus stiegen. Beim ersten Training stellte Berti uns der Mannschaft vor. [...] „Sie sollen Ihre Chance nutzen.“ Die Westler sind immer so aufregend direkt! Anfangs war ich auch sehr gehemmt, wie wir Ossis eben manchmal sind. Gut, daß der Bundestrainer uns aufmunterte: „Fühlt euch nicht ausgeschlossen, quatscht mit den anderen.“ Klar, wenn der Berti nichts gesagt hätte, hätten wir Ossis eisern die Trainingshosen anbehalten und das Essen verweigert. Aber so kamen natürlich sofort die irrsinnigsten Kontakte zustande. Abends saßen Beinlich und ich mit Thomas Häßler zusammen. „Icke“, wie „Paule“ Beinlich ebenfalls ein gebürtiger Berliner, machte uns Mut: „Ihr gehört nun dazu. Ihr seid einer von uns.“
Schon nach wenigen Minuten, wir sprachen auch über unsere Gefühle, merkte Schneider, einer der einen von uns, wie der neue Geist in ihn einschoß, nämlich als Vogts ..., hossa, in? mir kam. Er sagte nur: „Du spielst von Anfang an, nutze deine Chance.“ [...] In meinem Kopf rauschte es nur noch ...
Erst dieses Kribbeln, nun ein Rauschen, dann die Entspannung. Danach saßen wir im Restaurant [...] Reuter und Kohler erzählten von ihren Erlebnissen als Profi, von Grätschen, Groupies und diesen Geschichten. Ich habe zugehört und viel gelernt, denn ich bin ja erst 22 Jahre alt, und wenn ich groß bin, will ich Kosmonaut werden.
Aber noch stand unserem wackeren Lehrling das eigentliche Initiationsritual bevor, die sogenannte „Mannschaftsbesprechung“. Dabei versuchte der „neue Geist“ wieder und wieder, sein jüngstes Opfer (erst 22) im Sturm zu nehmen: Vogts sagte mir, daß ich ganz locker bleiben soll. „Spiel einfach.“ Leicht gesagt, denn mein Herz schlug immer heftiger, es kribbelte und rauschte nur so, doch die erfahrenen Spieler beruhigten mich. Klinsi meinte: „Genieße das Spiel.“ Kuntz sagte, daß ich keine Angst haben soll. „Auch wenn du den Möller anmachst, ist das nach dem Spiel vergessen.“ „Vergessen“ ist gut, ausgerechnet bei Merkmaschine Möller, genau dem „Andy“, der laut Die Woche beim Besuch eines Townships bei Kapstadt gemutmaßt haben soll, es handele sich um ein SOS-Kinderdorf. Egal, auch Heimer gab mir – wie eigentlich alle – einen aufmunternden Klaps. Man bewegte sich im Takt der Klapse auf und nieder, die Nationalhymne sang ich dabei leise mit, den Text kannte ich schließlich, woher sonst, von meinen sechs Einsätzen in der Olympiaauswahl. Und wenig später war es dann soweit, dann hörte ich zum ersten Mal einen Kommentar von Vogts: „Mit dem René werden wir noch viel Freude haben.“
O ja, durch diesen Spruch seines Lehrmeisters war unser Jüngling nämlich auch offiziell vom „neuen Geist“ eingenommen, erobert worden. Und wie um den „neuen Geist“ darin zu bestätigen, rief der René freudig aus: Ich spiele zwar an der Ostsee Fußball, aber Meerestiere sind nicht mein Fall.
Originalgeist (kursiv): Kicker
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André Mielke
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