Der Bürokratiewahn von Hartz IV: Das Monster
Ursprünglich sollte durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe Bürokratie abgebaut werden. Doch nun landet der Kauf eines Badeanzugs gleich vor dem Sozialgericht.
Frau R. hat alles genau aufgelistet. "Gekauft werden musste ein Badeanzug für 25 Euro, nötig für die Rehabilitation in der Klinik. Hinzu kamen Badelatschen für 15 Euro. Und dann noch neu zu kaufende Kosmetik." Was halt im Sommer so fällig wurde an Extrakosten für ihren mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt. Mit einer betont sachlichen, fast schon monotonen Stimme leiert die 47-jährige Hartz-IV-Empfängerin die Posten herunter.
R.s Fall ist die zweite mündliche Verhandlung heute in diesem Saal im Sozialgericht Berlin zum Thema Arbeitslosengeld II. Eins von 2.000 Verfahren, die beim Berliner Sozialgericht von Hartz-IV-EmpfängerInnen monatlich angestrengt werden. Anderswo sieht es nicht besser aus. Die Zahl der Klagen wegen der Hartz-IV-Gesetze "ist ein stetiger Prozess, der in Niedersachsen und Bremen nach oben führt", berichtet Stefan Jungeblut, Sprecher am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen. Die Zahl der Richter dort wurde seit dem Bestehen der Gesetzgebung zum Arbeitslosengeld II um ein Drittel aufgestockt.
Langzeiterwerbslose, die einen Antrag auf den Bezug von Arbeitslosengeld II stellen, bekommen nach Bearbeitung des Antrags einen Bescheid vom Jobcenter. Wenn ihnen dieser Bescheid unzutreffend erscheint, kann ein Antragsteller Widerspruch einlegen. Dazu erhält er dann einen Widerspruchsbescheid von der Arbeitsagentur. Ist er immer noch dagegen, kann er beim örtlichen Sozialgericht Klage einreichen oder einen Antrag auf ein Eilverfahren stellen, etwa wenn eine Räumungsklage droht, weil die Mittel für eine Mietzahlung fehlen. Die Klage kann schriftlich oder durch persönliches Erscheinen beim Sozialgericht abgegeben werden. Sie ist in der Regel kostenlos. Will sich der oder die Betroffene einen Anwalt nehmen, kann er oder sie Prozesskostenhilfe beim Gericht beantragen. Dafür muss die Klage gewisse Erfolgsaussichten haben. Nicht in allen Fällen kommt es zu einer mündlichen Verhandlung. In der überwiegenden Zahl der Verfahren wegen Hartz IV
gibt es auch kein Urteil des Gerichts im juristischen Sinne, sondern die Antragsgegner akzeptieren einen Lösungsvorschlag des Richters, der nach Erläuterung der Rechtslage erfolgt. BD
Bundesweit liegen zwar nur Zahlen für 2006 vor, doch die lassen auch für dieses Jahr das Desaster schon erahnen. Laut Bundesarbeitsministerium gingen im vergangenen Jahr rund 80.000 Klagen zu Hartz IV bei den Sozialgerichten ein. Und davon waren zum Jahresende 2006 noch ganze 60.000 unerledigt geblieben. "Wenn man bedenkt, dass die Gesetze für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ursprünglich mal Bürokratie vermindern sollten, so ist das eindeutig nicht geschehen", sagt Michael Kanert, Sprecher beim Sozialgericht Berlin. Harald Thomé, Sozialberater beim Verein Tacheles in Wuppertal, wird drastischer: "Hartz IV ist ein Bürokratiemonster."
Zwei große Bruchstellen gibt es bei der Umsetzung der Hartz-IV-Regelungen, die im Sozialgesetzbuch II festgehalten sind. Eine davon ist die Schwierigkeit, die Bedarfslage von Einzelfällen per Gesetz pauschal zu regeln. Klägerin R. zum Beispiel ist jetzt in ihrer Aufzählung vor Gericht beim Posten "Abrufen der E-Mails" angekommen. Im Krankenhaus "kostete dies 50 Cent pro Internetnutzung, macht 15 Euro im Monat an Mehrkosten, da ich zu Hause eine Flatrate habe." Die Ausgaben für Tabak beliefen sich laut R. am Klinikort Bad Wildung "auf 42,50 Euro im Monat, zu Hause hingegen komme ich durch den Erwerb von Großpackungen auf nur 25,90 Euro im Monat".
Das Jobcenter hat Frau R. das Arbeitslosengeld II um 141 Euro gekürzt, weil sie in der Klinikzeit keine eigenen Ausgaben für Essen hatte. Doch die Langzeitarbeitslose forderte das Geld zurück. Nach einer Beratung verurteilt Richterin Ulrike Willkomm das Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf zur "Zahlung von 141 Euro".
Dass hier eine Klägerin ihre Ausgaben für Badeanzug und Tabak vor einer hauptamtlichen und zwei ehrenamtlichen Richtern erläutern muss, zeigt das Problem. Die Hartz-IV-Gesetze mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sollten Bürokratie vereinfachen, auch indem viele Leistungen pauschaliert wurden. Doch entgegen der politischen Idee, den bürokratischen Aufwand durch Pauschalierungen zu vermindern, landen die Einzelfallprüfungen nun nicht mehr wie früher bei den Mitarbeitern des Sozialamts, sondern bei der Justiz. "Jetzt sind es die Gerichte, die in erheblichem Maße Einzelfallprüfungen vornehmen müssen", erzählt Jungeblut aus der Praxis in Niedersachsen.
Die Klagen sind vielfältig wie die Lebenslagen. Wie hoch dürfen die Unterkunftskosten sein, wenn ein Kind öfter in der Wohnung des geschiedenen Vaters schläft? Ist ein Haus, das einem Nießbrauch unterliegt, dennoch verwertbares Vermögen? Darf ein Existenzgründungszuschuss auf Arbeitslosengeld II angerechnet werden? Zu den beiden zuletzt genannten Fällen verhandelt heute das Bundessozialgericht in Kassel in letzter Instanz.
Der Verein Sozialticker aus Cottbus veröffentlicht auf seiner Website wichtige Urteile zu Hartz IV (www.sozialticker .com). Allein für diese Woche listet der Verein 25 relevante Entscheidungen auf. Doch die juristischen Verwicklungen zum Thema "Bedarf" sind nur eine Bruchstelle der Hartz-IV-Problematik. Die zweite Bruchstelle liegt schon im Vorfeld der Gerichte, bei den Jobcentern. Denn auch dort sind die gesetzlichen Regelungen nur störungsreich umzusetzen. "Hartz IV ist eine strukturelle Überforderung der Behörden", sagt Kanert. So seien etwa die einzelnen Berechnungsregelungen zu Nebeneinkommen, die die Jobcenter vornehmen müssen, "kompliziert wie das Steuerrecht".
Zuvor an diesem Tag im Sozialgericht Berlin hatte Richterin Ulrike Willkomm beispielsweise über den Fall von Frau M. zu entscheiden. Das Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf hatte bei Frau M. die Rente des Ehemanns nicht korrekt auf den Anspruch auf Arbeitslosengeld II angerechnet und einen Freibetrag unberücksichtigt gelassen, weil ein gestresster Sachbearbeiter den Unterschied zwischen "Einkommen" und "bereinigtem Einkommen" übersehen hatte. Die Richterin rekapituliert, dass das Jobcenter statt "387,77 Euro" nun "402,97 Euro" monatlich an Frau M. zu zahlen habe. Die Klägerin bekommt ihr Geld. Schließlich hat ein Sachbearbeiter im Jobcenter die falsche Berechnung zu verantworten, die den Empfängern 15,20 Euro im Monat vorenthielt.
"Außenstehende können sich nicht vorstellen, unter welchen Umständen die Leute in der Verwaltung im Jobcenter arbeiten", seufzt Rolf Brecher, Leiter der Widerspruchsstelle im Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf. Er ist im Falle von Frau M. "Antragsgegner". So müsse für jeden Hartz-IV-Antragsteller die Art der Warmwasseraufbereitung erfasst und von der Heizungsart finanziell getrennt werden können, schildert Brecher. Für die Heizkosten einer Wohnung kommt nämlich das Jobcenter durch die Übernahme der Warmmiete direkt auf. Den persönlichen Energieverbrauch aber, etwa den Verbrauch für Gas in der Küche und warmes Badewasser, muss der Leistungsbezieher aus dem Regelsatz von 347 Euro bestreiten. Ist der Warmwasserverbrauch in der Heizkostenabrechnung nicht gesondert ausgewiesen, rechnet das Jobcenter eine sogenannte Warmwasserpauschale aus diesen Kosten heraus und zieht diese von der Mietzahlung ab.
Fehlerträchtig wird es dabei in Fällen, in denen der Leistungsbezieher zwar eine Zentralheizung, aber keine zentrale Warmwasserversorgung hat. Nicht selten protestieren Leistungsempfänger dann gegen den Abzug der "Warmwasserpauschale" von den Heizkosten, da sie ja vielleicht einen Elektroboiler in der Wohnung haben, dessen Verbrauch sie doch schon aus dem Regelsatz bestreiten.
Auch wird es "schwierig, wenn die Wohnung Gasheizung hat, aber in der Küche auch mit Gas gekocht wird", sagt Brecher. Welches Gas dient der Heizung, welches der Essenzubereitung? Das ist ein Fall für die sogenannte Kochgaspauschale, die dann amtlich festgelegt und von den Gasverbrauchskosten abgezogen wird.
Auch die Einkommensanrechnung bei Hartz IV ist von einer Kompliziertheit, die jedem Steuerbeamten ein wissendes Lächeln auf die Lippen zaubern dürfte. Nur dass in den Steuerbehörden ausgebildete Finanzbeamte sitzen, während in den Jobcentern oft Sachbearbeiter aus den Überhängen anderer Behörden die Software bedienen. "Die Leistungsberechnung ist kompliziert und stellt hohe Anforderungen an die Qualifikation", formuliert Brecher.
"Schlechtes Gesetz"
"Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Die Beratung durch Grundsicherungsträger ist schlecht, und die Ämter arbeiten mit einer schlechten Software", rügt Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Kipping fordert daher zumindest, das Netz der unabhängigen Beratungsstellen weiter auszubauen und "finanzielle Mittel dafür bereitzustellen".
Denn eine andere Wahl als den Weg des Widerspruchs und der Klage haben die Hartz-IV-Empfänger nicht. Vor Gericht zu gehen ist ihre "einzige Handlungsvariante", betont Thomé. Immerhin ein Drittel der Klagen sei erfolgreich, sagt der Berater. Und schon im Vorfeld der juristischen Verfahren, beim Einlegen von Widersprüchen gegen Bescheide durch die Jobcenter, bekämen 40 Prozent der Leistungsempfänger recht.
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