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Der Bratwurstkomplex

■ Vergessene Zusammenhänge zwischen Pfostenschüssen und der ökonomischen Gesamtlage

Auch ein Feind des öden Abfeierns von Gedenk- und Jahrestagen kennt schwache Momente. Deshalb wird um Nachsicht gebeten, wenn hier das 10jährige taz-Jubiläum wenn auch eine Woche verfrüht - zum Anlaß genommen wird, an ein politisch-journalistisches Essential (so heißt das heute) aus der Gründerzeit zu erinnern: Alles hängt mit allem zusammen (Komplexität!) und hinter alledem steckt die Wirtschaft (eine bittere Wahrheit, die Rotgrüntümler gerne verdrängen); was wir sehen ist nur das Treiben der Charaktermasken, der Gang der Dinge hat (wie der DFB-Pokal) seine eigenen Gesetze. So weit, so Marx.

Damit ist schon klar, daß auch ein simpel scheinendes Fußballspiel im Zusammenhang gesehen werden muß. Womit? Waren, Umsatzzahlen, Arbeitsplätzen. Nehmen wir zum Beispiel den Weg vom U-Bahnhof Olympiastadion bis zum Eingang von demselben. Am Samstag reihten sich dort Wurstbuden mit Getränkeverkauf (10), fußballerische Devotionalienhändler (3) und Kebabstand (1), alle in Erwartung einer hohen Besucherzahl, des Berliner Derbys wegen.

Das Geschäft lief ordentlich, 32.050 Zuschauer legten die eine oder andere Mark in die Kassen, anders als im Falle des Normalbetriebs, wenn Hertha oder Blau-Weiß gerade 5.000 anlocken. Es waren auch mehr Verkaufsstände da als sonst, denn nicht alle teilen die Meinung einer Frau, die seit 22 Jahren hier Würste feilbietet: „Man muß auch die schlechten Zeiten mitmachen.“ Schlechte Zeiten...

Das ist es ja. Welchem Kicker im Stadion ist denn klar, was er anrichtet mit seinem Gewürge, daß jeder Pfostenschuß Auswirkungen hat auf unzählige Glieder der Produzentenkette. Beispiel Bratwurst: Verkäufer, Metzger, Schlachthof, Viehzüchter, Futtermittelhersteller, Senfproduzent; Brötchen, Bäcker, Bauer, Chemiemulti. Von Cola, Bier, Fischbouletten usw. ganz zu schweigen.

Einzig beim Devotionalienhandel gleicht sich im Falle kontinuierlicher Punktverluste der Vereine durch kulthaftes Treiben der Fans die schwindene Zuschauerzahl aus: Fahnen werden verbrannt, Trikots und Schals werden frustig malträtiert und müssen durch neue ersetzt werden. Das ist sinnvolles ökonomisches Handeln im Sinne von J.M. Keynes!

Der allerdings würde auch fordern, der Staat dürfe der wirtschaftlichen Flaute nicht tatenlos zusehen. Was aber macht zuallererst die rotgrüne Regierung? Streicht den Berliner Proficlubs je 100.000 DM Subventionen. Folge: miesere Mannschaften, weniger Publikum, Arbeitsplätze ade (was kurzfristig durch Schecks der Spielbank - je 200.000 Mark - konterkariert werden kann).

Soviel Kurzsichtigkeit 10 Jahre nach Gründung der taz!

PS: Natürlich war die Zeitung vor Ort, im persönlichen Gespräch mit den Betroffenen (!) die Auswirkungen zu diskutieren. Doch bei aller Plauderei über das Wetter, Gott und die Welt, sobald das Gespräch auf die Anzahl verkaufter Bratwürste kam, verschlossen sich Mienen und Münder der Händler. Sie hielten den Reporter für einen Gesandten von Gewerbeaufsicht oder Steuerfahndung, was diesen tief kränkte.

Thömmes

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