■ Der Atomausstieg ist machbar, aber immer neue Konzepte sorgen für Verwirrung: Einfach kompliziert abschalten
Der Atomausstieg sollte ein Renommierprojekt der rot-grünen Koalition werden. Doch ein Jahr nach der Wahl ist unklarer denn je, ob und wie er verwirklicht werden soll. Vor allem vier Konzepte werden derzeit diskutiert:
Wirtschaftsminister Müller wollte der Energiewirtschaft Sicherheiten für die Zeit nach einem Konsens geben: Die Genehmigungen sollten gesetzlich auf 40 Volllastjahre befristet werden, die Unternehmen sich aber in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag verpflichten, ihre AKWs nach 35 Kalenderjahren abzuschalten. Sie könnten den Vertrag jedoch kündigen, so Müllers Trick, um höhere Sicherheitsanforderungen der Bundesregierung zu verhindern. Nur: Der Vorschlag ist aus vielen Gründen juristisch nicht umsetzbar und scheitert vor allem an der Notwendigkeit, die Länder als Vertragspartner einzubeziehen.
Interesse weckt seit kurzem ein zweiter Vorschlag von Stefan Kohler, dem Chef der niedersächsischen Energieagentur. Er plädiert dafür, sich nicht auf einheitliche Laufzeiten für alle 19 AKWs zu fixieren. Um die Konsensverhandlungen aus ihrer „Sackgasse“ herauszuholen, empfiehlt er: Die Energiekonzerne vereinbaren verlässliche „Regellaufzeiten“ von 25 Jahren. Nach Ablauf dieser Frist müssten die Anlagen auf deren Kosten einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen und nachgerüstet werden. Diese Auflage würde die Unternehmen und nicht die Bundesregierung vor die Frage stellen, ob aus ökonomischen Gründen das Abschalten nicht die billigere Variante sei. Das ist pfiffig gedacht. Der Vorschlag wirkt durch die Hoffnung verführerisch, unnötigen Streit über Laufzeitbegrenzungen zu vermeiden, wenn Marktgesetze und ökonomische Vernunft zum gewünschten Ergebnis führen: Abschalten nach 25 Jahren. Wird der Vorschlag aber tatsächlich Streit vermeiden und zu einer absehbaren Beendigung der Kernenergie führen? Wohl kaum.
Wahrscheinlicher ist, dass jeder Betreiber nach der Regellaufzeit beliebig viele Gutachten anbringen wird, dass seine Anlage den Standards entspricht und er sie ohne Nachrüstung weiter betreiben kann. In der Bundesrepublik gibt es nicht genügend kritische Gutachter, die die vorgelegten Gutachten widerlegen könnten. Wenn Bundesländer die Nachweise akzeptieren, müsste der Bund versuchen, Nachrüstungen über sein Weisungsrecht durchzusetzen. Ohne Streit wird sicher kein AKW nachgerüstet oder abgeschaltet werden. Für jedes AKW sind Gerichtsprozesse absehbar – Regeldauer zehn Jahre. Gutachten, behördliche Verfahren, Gerichtsprozesse zusammengenommen – schon haben wir zusammen mit der „Regellaufzeit“ 40 Jahre Laufzeit – ohne umfassende und teure Nachrüstungen. Danach erst stellt sich die Frage, ob die nach mehreren Prozessen übrig gebliebenen Nachrüstungsforderungen tatsächlich einen Weiterbetrieb verhindern. Dieses Konzept wird jedenfalls nicht zu einem absehbaren Ausstieg führen. Daher ist auch sehr zu bezweifeln, dass ein solcher Konsens die Demonstranten überzeugen kann, die sich nächstes Frühjahr Castor-Transporten entgegenstellen werden.
Gegenüber diesen massiven Nachteilen erscheint die dritte, von Kohler angegriffene, im Koalitionsvertrag vereinbarte Strategie überzeugender: eine nachträgliche Befristung der Betriebsgenehmigungen. Die einheitliche gesetzliche Begrenzung auf 25 Jahre würde klare Verhältnisse schaffen. Das Gesetz ist selbstvollziehend. Die Betriebsgenehmigungen erlöschen zum Fristende von selbst. Die Einhaltung des Gesetzes ist leicht zu überwachen. Ein langer Streit um Sicherheitsgutachten erübrigt sich. Vollzugsakte der Landesbehörden und damit Weisungen des Bundes sind nicht erforderlich. Das Gesetz kann nicht vor den Verwaltungsgerichten, sondern nur vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden. Ein einziger Prozess schaffte schnell Rechtsklarheit. Gegenüber Kohlers Vorschlag ist an die drei tragenden Gründe für den Atomausstieg zu erinnern. Dieser wird nämlich nicht deshalb gewollt, weil die AKWs internationalen Sicherheitsstandards widersprächen. Die Ausstiegsgründe sind vielmehr politisch-ethischer Natur und können daher nicht durch ingenieurtechnische Überprüfungen einzelner AKWs beseitigt werden. Der erste Grund sind die nicht verantwortbaren Schadenspotenziale. Ihnen wurde bislang die geringe Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts gegenübergestellt. Zu gering gewichtet wurden jedoch die gesellschaftszerstörenden Auswirkungen beim Eintritt eines großen Unfalls. Schadensmöglichkeiten von Millionen Toten und Billionen Mark sind auch bei noch so geringer Wahrscheinlichkeit nicht zu verantworten. Der zweite Grund: Kernenergie ist kaum sozial verträglich, und zudem besteht die Gefahr des Missbrauchs. Der dritte Grund liegt in der ungelösten Entsorgung. Da es kein sicheres Endlager gibt und in absehbarer Zeit geben wird, ist die weitere Produktion von Atommüll auf das geringstmögliche Maß zu begrenzen. Die einheitliche Befristung der Genehmigungen ist daher eine vernünftige Strategie. Sie ist bei einer Laufzeit von 25 Jahren sogar juristisch entschädigungsfrei möglich. Der Vorschlag Kohlers ist eine „Lösung“, wie sie Politiker gern aufgreifen, weil sie Probleme nicht löst, sondern auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt. Sie ermöglicht vielleicht einen Konsens, weil sie von niemandem heute eine Entscheidung abverlangt. Sie führt jedoch nicht zum schnellstmöglichen Ende der Kernenergienutzung, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Aus diesem Blickwinkel ist der Vorschlag nicht zu Ende gedacht, kontraproduktiv und stiftet nur Verwirrung.
Das vierte Konzept, von Trittin und Fischer jüngst vorgeschlagen, kommt ebenfalls wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Überlegungen entgegen. Unter bestimmten Randbedingungen könnte er ein tauglicher Kompromiss zwischen Flexibilisierung und Verlässlichkeit des Ausstiegs sein. Nach einem festen, unter den Energiekonzernen ausgehandelten und vom Bundesumweltamt überprüften und genehmigten Plan könnten weniger rentable und sichere AKWs in weniger als 25 Jahren abgeschaltet werden und jüngere und sicherere Anlagen um diese Jahre länger laufen. Als Gegenleistung für diese Wahlmöglichkeit verzichten die Unternehmen in einem Gentlemen's Agreement darauf, das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht anzugreifen. Sofern die Laufzeit nach Kalenderjahren bemessen ist, könnte diese Strategie ausreichende Klarheit bieten, wann welches AKW vom Netz geht, und – ohne Gutachtenkleinkrieg und Prozesslawinen um jedes einzelne AKW – eine berechenbare und verlässliche Beendigung der Kernenergienutzung gewährleisten. Alexander Roßnagel
Hinweise:Können Marktgesetze und ökonomische Vernunft zum Ausstieg führen? Nein!Das neue Konzept von Fischer und Trittin ist flexibel, sicher und berechenbar
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