: Der AL droht der Zerfall in eine Sekte
■ Die Grünen - und die AL - haben nur in Koalitionen eine Chance, den Konservativen den Entwurf einer ökologischen, multikulturellen Gesellschaft entgegenzusetzen / Nur Rot-Grün kann den Vereinigungsprozeß solidarisch mit der DDR vollziehen
Der deutsche Vereinigungsprozeß führt auch zu einem Umbruch der Parteienlandschaft in der BRD. Während CDU, SPD und FDP auf einen schnellen Anschluß ihrer jeweiligen Ostableger setzen können, stellt sich die Lage für die Grün -Alternativen und die Bürgerbewegungen weitaus komplizierter dar. Nicht zuletzt deshalb, weil sich bei uns in fataler Weise innere Probleme mit der Frage einer neuen gesamtdeutschen Formation mischen.
Die Grünen stehen mitten in einer fraktionellen Zerreißprobe, die durch die abnehmende gesellschaftliche Attraktivität des grünen Projekts und die Erschütterung linker Weltbilder im Zuge des Zusammenbruchs des realen Sozialismus teils verursacht, teils verstärkt wird. In dieser Situation gibt es nur eine Option, die die Grünen als politisches Projekt mit gesellschaftlichem Einfluß erhalten kann: Gegen die Strömungstendenzen muß durchgesetzt werden, daß sich die Grünen inhaltlich als Partei profilieren, die für eine zivile und multikulturelle Gesellschaft und für grundlegenden ökologisch-sozialen Umbau steht. Gleichzeitig muß aber klar sein, daß mit jeder Spaltung - auch schon mit jedem Spaltungsversuch - das parlamentarische und anschließend politische Aus bei den nächsten Bundestagswahlen vorbereitet wird und daß deshalb der parteiinterne Kompromiß und Konsens wiedergefunden werden muß. Der hauchdünne Wahlausgang in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen war ein Denkzettel für die Grünen. Er räumt uns dennoch eine vermutlich letzte Chance ein, gegen die konservative Vormachtstellung das Primat einer ökologischen, multikulturellen und selbstbestimmten Gesellschaft auf gesamtgesellschaftlicher Ebene im Parlament zu vertreten.
Diese Aufgabe stünde auch an, wenn wir uns nicht auf die Bürgerbewegungen und Grünen in der DDR beziehen müßten. Im Zuge des deutschen Einigungsprozesses aber müssen sich die Grünen öffnen, um aus ihren interen Grabenkämpfen herauszukommen und sich in eine neue politische Formation zusammen mit den Bündnisorganisationen in der DDR einzubringen. Die Bürgerbewegungen und die Grünen können nur dann eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickeln, wenn die Grünen bereit sind, die Eigenständigkeit der Bündnispartner zu akzeptieren und sie als neuen Impuls begrüßen. Schon der erste Anstoß des grünen Bundesvorstandes, von oben herab Bündnisse auszuhandeln, stieß bei ihnen auf scharfe Kritik, weil er von völligem Unverständnis über die politische Kultur der DDR-Bewegungen geprägt war.
Weil wir es mit eigenständigen Partnern in der DDR zu tun haben und weil wir selbst eine inhaltliche Erneuerung brauchen, müssen wir eine neue politische Formation in einem erweiterten Bündnis anstreben. Ob das eines Tages zu einer gemeinsamen Partei mit Namen „Die Grünen“ führt, ob eine neue Liste zu den gesamtdeutschen Wahlen gebildet wird oder gar eine neue Partei, muß jetzt noch offen bleiben.
Die angekündigte Ausdehnung der PDS auch auf das Gebiet der Bundesrepublik und West-Berlins kann nur zu einem klärenden Differenzierungsprozeß zwischen Traditionssozialismus und dem grünen Projekt beitragen. Gerade in Berlin muß deshalb auch die Auseinandersetzung mit der PDS gesucht werden.
Die AL sollte die notwendige Transformation in einen grünen Landesverband mit dieser Option verbinden. Die Diskussion um die Umwandlung sollte deshalb mit der Diskussion um die politische Öffnung zu den DDR-Gruppen verbunden werden. Die rot-grüne Koalition in West-Berlin steht vor der entscheidenden Herausforderung, ob es gelingt, im Vereinigungsprozeß der Stadt das Schwergewicht auf die auch materielle - Solidarität mit der DDR, dem Vorrang ökologisch-sozialen Umbaus der Region und der aktiven Förderung der multikulturellen Gesellschaft zu legen. Seit der Grenzöffnung konzentriert die SPD-Spitze ihre Politik auf die demonstrative Betonung der Hauptstadtrolle Berlins, die Ansiedlung von Daimler-Benz und die Vorbereitung der Olympiade. Die Konzentration auf Themen der übergeordneten zentralen Funktionen Berlins erinnert fatal an den Kurs des Diepgen-Senats. Der Konsens der Koalitionsvereinbarung muß unter den neuen Bedingungen so fortentwickelt werden, daß die sozialen Verunsicherungen in Ost und West ernst genommen werden. Rot-Grün hat in Berlin nur eine Chance, wenn wir gegen den Bonner Anschlußkurs ein Modell der demokratisch bestimmten Vereinigung setzen.
Die AL steht in der Gefahr, den Koalitionsbruch an einem beliebigen, in der Stadt nicht vermittelbaren Konflikt mutwillig herbeizuführen. Die AL muß ihre programmatisch besseren Alternativen entwickeln und so lange anbieten auch wenn sie sie nicht durchsetzen kann - bis der zentrale politische Konflikt in seinem ganzen Umfang - nämlich als gegensätzliche Modelle der Gesamtentwicklung der Stadt - in der breiten Öffentlichkeit klar ist. Nur wenn klar wird, daß die SPD auf der ganzen Linie eine Politik verfolgt, die gegen rot-grüne Interessen gerichtet ist, wird es uns gelingen, die vielen ganz unterschiedlichen Interessengruppen in der AL weiter zu gemeinsamem Handeln zu bringen. Der AL droht der Zerfall in eine Sekte, wenn 200 MVV-TeilnehmerInnen den Ausstieg aus der Koalition als Sieg feiern und die Mehrheit des AL-nahen Spektrums in der Stadt uns beschuldigt, mutwillig eine große Koalition mit all ihren Folgen verschuldet zu haben. Man sollte sich auch ganz nüchtern klar machen, daß selbst diejenigen, die meinen, wir seien schon viel zu lange in der Regierungsverantwortung, nach dem Koalitionsbruch kaum begeistert in die AL zurück kommen werden, um endlich wieder Opposition zu machen.
Auch für Berlin gilt, daß nur basisdemokratische Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern in Ost-Berlin zu einer neuen Formation führen kann, die auch bei Gesamtberliner Wahlen politischen Einfluß geltend machen kann. Auch wir können unsere eigene Politik nur noch weiterentwickeln, indem wir die eigenständige politische Kultur und die Forderungen der DDR-Gruppen einbeziehen und gemeinsame Politikstrukturen aufbauen. Daß wir in der Koalition, die Ostberliner Gruppen wahrscheinlich in der Opposition sind, ist dabei kein Hindernis. Die erste Aufgabe besteht darin, daß wir alle erst lernen müssen, Berlin zusammen zu denken, mit all den noch unwägbaren Entwicklungen und ein Verständnis über die unterschiedlichen Bedingungen entwickeln. Erst dann werden wir zu einer Politik in der Lage sein, die sich auf die neue Situation bezieht.
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