: Denkfehler-betr.: "Zuwanderungspolitik und Asylrecht", Leserbrief von Otto Schily, taz vom 9.10.92
betr.: „Zuwanderungspolitik und Asylrecht“, Leserbrief von Otto Schily, taz vom 9.10.92
Otto Schily kennt vielleicht das Asylrecht, aber offensichtlich weder das Asylverfahren noch irgendeinen Flüchtling näher. Politische Flüchtlinge erkennt man eben nicht an der Nasenspitze, sondern nur durch ausführliche und vertrauensvolle Gespräche, wie sie schon im jetzigen Verfahren beim zuständigen Bundesamt in der Regel nicht mehr möglich sind.
Daraus ergeben sich seine Denkfehler:
—Niemand, schon gar nicht ein Flüchtlingsbeauftragter, kann in einem vorgeschalteten Zulassungsverfahren feststellen, wer zum Asylverfahren zuzulassen ist und wer nicht, es sei denn, das Zulassungsverfahren wäre so gründlich, wie das Asylverfahren selbst sein müßte.
—Wer Listen verfolgungsfreier Länder als zu widerlegendes Zulassungshindernis erwägt, fördert das „Weghören“ im Asylverfahren, wo ohnehin kaum mehr richtig Fluchtgründe ermittelt werden. Und er erliegt der Illusion, daß er das Chaos in der Welt aus Deutschland fernhalten kann, indem er es einfach wegdefiniert. Ein Blick in den amnesty-Jahresbericht ist sehr heilsam bei der Diskussion um Länderlisten.
—Die Belastung der Gerichte ergibt sich nicht aus dem schrankenlosen Zugang aller Asylbewerber zum Rechtsweg, sondern aus der schlechten Sachverhaltsaufklärung beim Bundesamt und aus dem restriktiven Ausländerrecht, das Flüchtlingen außer dem Asylgerichtsverfahren de facto kaum eine Chance läßt, ihre Rechte durchzusetzen.
Otto Schilys Turboverfahren wird diejenigen am stärksten treffen, die sich am wenigsten auf so ein Verfahren vorbereiten können; das sind die Kriegsflüchtlinge und die im weiten Sinne politisch Verfolgten. Daß er die Grundrechtsänderung dennoch aus Sorge um die „tatsächlich politisch Verfolgten“ vorschlägt, ist vielleicht doch nicht nur Ignoranz, sondern die bisher nicht bei ihm, wohl aber bei diesem Thema hinlänglich bekannte Scheinheiligkeit. Martin Roger, Hannover
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