piwik no script img

Demokratisierung im Eilzugtempo

Oppositionelle in der DDR rufen auf zu einer „Sammlungsbewegung der Erneuerung“  ■ G A S T K O M M E N T A R

Die SED hält fest an ihrem erfolgreichem Weg des Aufbaus des Sozialismus in den Farben der DDR. So tönt es gleichlautend aus allen offiziellen Medien der DDR. Doch längst ist die Abstimmung mit den Füßen schon wieder im Gange. Fast jeder zehnte will das Land verlassen, und jeder zweite hat schon darüber nachgedacht. Offensichtliche Wahlfälschungen und das Bekenntnis zum Mörderregime in China haben endgültig gezeigt, wie vertrauenswürdig die DDR-Führung noch ist. Nur noch wenige Menschen haben Hoffnung auf Reformen in der DDR. Sie wollen einfach raus. Das ist allzu verständlich. Vorwürfe sind hier fehl am Platz. Auch wenn so manch einer, der geht, lange Jahre Stütze des Systems war oder nur wenige sich politisch zur Wehr setzten, muß jeder das Recht haben, das Land zu verlassen, für wie lange auch immer.

Aber wo sind die Alternativen in der DDR zu finden? Wo sind die SED-Genossen, die ihre Reformkonzepte angeblich schon in der Schublade haben? Sie laufen mit auf vorgegebener Linie oder schweigen. Wo sind die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen? Ihre Entfernung zur Bevölkerung ist fast so groß wie die der SED. Sie bezeichnen die Ausreiser als „Schlaraffenbewegung“ oder fahren nach Mecklenburg zum vegetarischen Kochkurs. Wo sind die Kirchenoberen, die Mahner für Gerechtigkeit? Sie distanzieren sich von denen, die ihre demokratischen Grundrechte wahrnehmen und auf die Straße gehen. Für die „unbelehrbaren Querulanten“ finden sie die „humanitäre Lösung“ und fahren sie in den Westen, scheuen sich aber nicht, auf vielen Kirchenveranstaltungen aufzurufen: „Bleibt im Lande.“

Mit solcherart Appellen und einer Politik der kleinen Schritte ist der Zerfallsprozeß der DDR nicht mehr aufzuhalten. Wer wirklich will, daß dieses Land nicht zugrunde geht, muß Zeichen setzen, muß sich bekennen zu einer konsequenten Demokratisierung im Eilzugtempo und handeln.

Die Gründung von Vereinigungen und Reformparteien sowie die Durchsetzung von freien Wahlen müssen erste Meilensteine dabei sein. In diesem Sinne ist der Aufruf zur Schaffung einer „Sammlungsbewegung für die Erneuerung“ außerhalb und unabhängig von den Kirchen die richtige Konsequenz. Aber auch die Kirchen können einen Beitrag leisten für eine Umgestaltung. Die Autos, mit denen sie einige „Widerspenstige“ in den Westen brachten, könnten zur Rückfahrt bereitstehen. Ich bin schon heute bereit. Vielleicht wäre ich dann nicht der einzige, der mitfahren würde.

Roland Jahn, Berlin-West, 1983 wegen seiner Aktivitäten in der Friedensbewegung gewaltsa

aus der DDR gebrach

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen