Demokratische Firnis über einem Unrechtsstaat

■ Äthiopiens Opposition boykottiert die Parlamentswahlen am Sonntag

Bonn/Addis Abeba (epd) – „Selbstverständlich würde ich gern wählen, doch kann man das Wahl nennen, wenn von vornherein feststeht, wer gewinnt?“ Der 65jährige Professor Mesfin Wolde-Mariam aus Addis Abeba ist Vorsitzender des „Äthiopischen Menschenrechtsrates“, der nach dem Sturz des Mengistu-Regimes im Oktober 1991 gegründet wurde. Von der Situation in dem Land am Horn von Afrika kurz vor der ersten Parlamentswahl zeichnet er ein düsteres Bild.

Die Vorwürfe gegen die Übergangsregierung unter Präsident Meles Zenawi reichen von Unterdrückung der Pressefreiheit und Bedrohung oppositioneller Politiker bis zu willkürlichen Verhaftungen, Folter, „Verschwindenlassen“ von Kritikern und politischem Mord. Dabei gilt der 39jährige Präsident, der fast die Hälfte seines Lebens als Kämpfer und Stratege der „Tigrischen Befreiungsfront“ (TPLF) im Buschkrieg zugebracht hat, im Westen nach wie vor als politischer Hoffnungsträger.

Am Sonntag sollen die 22,5 Millionen Wahlberechtigten unter den 55 Millionen ÄthiopierInnen erstmals ein nationales Parlament wählen. Nach offizieller Lesart wird dann der Übergangsprozeß zur Demokratie abgeschlossen sein, den die aus der TPLF hervorgegangene „Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF) bei ihrer Machtübernahme 1991 versprochen hatte. Vorausgegangen war ein mehr als 15jähriger Bürgerkrieg der Befreiungsfronten der Tigrer, Eritreer und Oromos gegen das lange von Moskau gestützte Regime von Diktator Haile Mengistu Mariam. Das früher zu Äthiopien zählende Eritrea ist inzwischen ein unabhängiger Staat. Für die übrigen Landesteile des alten Äthiopien wurde am 8. Dezember 1994 eine Verfassung verabschiedet, die eine parlamentarisch-demokratische Regierungsform und Wahlen spätestens nach sechs Monaten vorsieht. Doch alle wichtigen Oppositionsgruppen und -parteien haben inzwischen eine Teilnahme an den Wahlen mit Hinweis auf Behinderung und Verfolgung abgelehnt.

Ende April veröffentlichte amnesty international (ai) einen Bericht, nach dem es „in Äthiopien offenbar zwei Sicherheits- und Gefängnissysteme gibt, in denen Gegner der Regierung festgehalten werden: das offizielle Polizei- und Gefängnissystem und ein geschlossenes System, das von Geheimdienst und Militär betrieben wird“.

Während in dem offiziellen Gefängnissystem die Rechte der Gefangenen weitgehend geachtet würden, seien die Gefangenen in dem „geschlossenen System“ Willkür und Folter rechtlos ausgeliefert. Gefoltert wird nach Angaben von amnesty in geheimen Häusern, die dem Staat gehören, in Gefängnissen des Geheimdienstes, in Camps der Armee in verschiedenen Landesteilen und auch in der Hauptstadt. Überlebende der Folter haben dem Bericht zufolge darauf hingewiesen, daß die neuen Sicherheitskräfte offenbar frühere Geheimdienstoffiziere Mengistus anwarben. Karin Adelmann