■ Demokratie unter Druck (4): In Deutschland wird der Bürgerstatus nicht durch politische Teilhabe erworben, er ist eine Art Schicksal: Wer ist das Volk?
Es ist wenig erquicklich, der ritualisierten Staatsbürgerschaftsdebatte zu lauschen. Die Diskussion kommt nicht von der Stelle, da sie mit einer Reihe falscher Voraussetzungen belastet ist.
Zunächst wird angenommen, Probleme der Staatsbürgerschaft würden vor allem „Ausländer“ betreffen. Und gewöhnlich führt man die Debatte unter dem Schlagwort der „doppelten Staatsbürgerschaft“, was klingt, als benötigten die mit dem Makel einer nichtdeutschen Herkunft behafteten Personen eine Prothese zum Leben. Für andere erweckt die „doppelte Staatsbürgerschaft“ den Eindruck, als würden hier Privilegien vergeben: „Sie“, die Ausländer, bekommen etwas „doppelt“, was „wir“, die Deutschen, selbst doch auch nur einfach haben.
Schließlich verbindet man mit Änderungen im Staatsbürgerrecht allgemein keinen Wandel im gesellschaftlichen Bewußtsein – nach dem Motto: der Paß ändert weder etwas an den Reaktionen der Einheimischen noch am Zugehörigkeitsgefühl der Migranten. Schlußendlich gehen die Veränderungswilligen landläufig davon aus, das Staatsbürgerrecht sei veraltet, ein lächerliches Relikt des Kaiserreichs. In der Zukunft, so scheint man zu glauben, führt daher ohnehin kein Weg an einer Erneuerung vorbei.
Angesichts solcher Vorstellungen kann es kaum überraschen, daß das Thema Staatsbürgerrecht auf der politischen Agenda immer wieder ganz unten landet. Dabei ist die Staatsbürgerschaft keineswegs ein vernachlässigenswertes Sonderproblem von „Ausländern“. Sie betrifft fundamentale Fragen des politischen Selbstverständnisses in einer Demokratie – sowohl für den Staat als auch für die einzelnen. Denn die Institution der Staatsbürgerschaft regelt, unter welchen Voraussetzungen eine Person in einem Nationalstaat Mitglied des „Volkes“ werden soll, also Teil der gesetzgebenden Instanz.
Das Staatsbürgerrecht beinhaltet daher immer eine recht umfassende Vorstellung davon, wie dieses „Volk“ auszusehen hat. Und wenn man über die Entwicklung der Demokratie Ende der 90er Jahre nachdenkt, dann ist es mit Slogans wie „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein Volk“ sicherlich nicht mehr getan; die Crux lautet vielmehr: „Wer oder was ist das Volk?“
In Deutschland wird die Zugehörigkeit zur Nation bekanntlich durch das „ius sanguinis“ (Abstammungsrecht) festgelegt: In diesem Sinne ist das Volk nichts anderes als eine ethnische Blutsgemeinschaft. Angesichts dieser Idee vom Volk muß man sich über Demokratiedefizite, Untertanenmentalität und politische Passivität nicht wundern. Denn das „ius sanguinis“ dient hauptsächlich dazu, das deutsche Volk als Gemeinschaft nach außen abzugrenzen. Für die Loyalität seiner Mitglieder muß der Staat diese nicht etwa von seinen politischen Institutionen überzeugen, sondern lediglich sicherstellen, daß sie nach Abstammung, Sprache, Kultur und so weiter deutsch sind. Die Individuen wiederum nehmen ihre bürgerlichen Rechte quasi als Erbschaft in Empfang. Es wird nicht von ihnen erwartet, daß sie den Bürgerstatus durch aktive politische Teilhabe auch erwerben. Aufgrund des „ius sanguinis“ sind Bürgerrechte im Bewußtsein vieler Deutscher eine Art freundliches Schicksal, und der wahre Leitbegriff deutscher Demokratie heißt immer noch „Sicherheit“.
Veraltet allerdings ist das deutsche Recht nicht. Im 19. Jahrhundert galt das Abstammungsrecht sogar als fortschrittliche Regelung. Zudem haben die letzten 85 Jahre diesem Recht überhaupt nichts anhaben können. Absurderweise wurde ausgerechnet nach dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf die Vertreibung die „reinste“ Version des „ius sanguinis“ eingeführt.
Auch der Einwanderungsdruck macht das Blutrecht nicht per se untauglich. Tatsächlich steuert es die einzig legale Migration nach Deutschland. Daß die rund 200.000 jährlichen Einwanderer aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks immer noch als „Spätaussiedler“ bezeichnet werden, ist reines politisches Kalkül. Denn so läßt sich die der Regierungkoalition genehme Einwanderung als schicksalhafter Prozeß außerhalb politischer Handlungsspielräume darstellen.
Bei der Änderung der Staatsbürgerschaft geht es daher weder primär um „Ausländer“ noch um Fortschritt, sondern um eine grundsätzliche politische Entscheidung, die alle angeht. Eine Neuregelung im Sinne des „ius soli“ (Staatsbürger wird, wer auf dem Territorium des Staates geboren wird) lohnt sich aus folgenden Gründen: Erstens bringt sie mehr Demokratie und Verantwortung für die einzelnen, zweitens mehr Rechtssicherheit und drittens weniger Kosten.
Da beim „ius soli“ die Staatsbürgerschaft zumindest ideell auf der freiwilligen Bindung an den demokratischen Staat basiert, steht bei der Geburt oder der späteren Naturalisierung der eigentliche Prozeß der Einbürgerung noch bevor. Die staatlichen Institutionen wie etwa die Schule müssen sich aktiv um Assimilation bemühen, während es für die Individuen darum geht, durch eigenes Engagement ihre Zugehörigkeit zu festigen. Dieser Vorgang stärkt definitiv die gegenseitige Verantwortung.
In diesem Sinne muß der Staat endlich auch durch ein politisches Assimilationsangebot eingewanderte „Ausländer“ zu Bürgern machen. Die Zuschreibung der Staatsbürgerschaft bei Geburt (bei Erhalt der anderen) würde dann unweigerlich alle Beteiligten aus ihrer Lethargie reißen.
Darüber hinaus bietet das „ius soli“ eine weit höhere Rechtssicherheit. Der Status des Bürgers läßt sich relativ leicht bestimmen, während beim Blutrecht endlose Stammbäume erforderlich sind. Zwar ermöglichen die Verbesserungen im „Ausländerrecht“ von 1990 auch solchen Personen, die nichtdeutscher Abstammung sind, nach 15 Jahren die Einbürgerung, aber im allerextremsten Fall bietet das „ius sanguinis“ diesen Bürgern weiterhin keinen Schutz – das haben die Juden im Dritten Reich auf tragische Weise erfahren müssen.
Schließlich wäre die Änderung des Staatsbürgerrechts auch eine veritable Maßnahme zur „Verschlankung“ des Staates. Eine schier unermeßliche Menge von Formularen, Aufenthaltsdokumenten zwischen „Befugnis“ und „Erlaubnis“ oder Daten im „Ausländerzentralregister“ würden ganz einfach überflüssig. Und über Kosteneinsparungen müßten sich dann auch die Konservativen wieder freuen können. Mark Terkessidis
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