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■ Demokratie unter Druck (3): Der Universalismus ist unvereinbar mit Massenarbeitslosigkeit, da diese das demokratische Potential schwächtVerlorener Zusammenhalt

Ein Arbeiter wurde vor Gericht gefragt, ob er die weltliche oder die kirchliche Form des Eides benutzen wollte. Er antwortete: „Ich bin arbeitslos.“ (Bertolt Brecht)

Unter „westlichem Universalismus“ versteht man das demokratische Denken, in dem die Menschen einander als Freie und Gleiche gegenüberstehen. Das Wort ist ein Widerspruch in sich: denn wäre dieser Universalismus wirklich universal, wäre er nicht westlich. Seine Anmaßung, die für alle Himmelsrichtungen gültige Ordnung zu sein, ist aber dadurch gerechtfertigt, daß er dem modernen Zustand, dem die ganze Welt zustrebt, angemessen ist. Früher als der Rest der Welt hat der Westen einen Prozeß durchgemacht, in dem sich – mehr oder weniger fortgeschritten – alle Völker befinden: die Auflösung der verwandtschaftlichen, gemeinschaftlichen Verkittungen und die Neubildung einer Ordnung, die aus einzelnen, unverbundenen Individuen besteht.

In dieser neuen Ordnung ist jeder allein auf sich selbst gestellt und verdankt seine Versorgung nicht mehr der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern dem freien Austausch seiner Arbeitskraft gegen die zu seinem Leben notwendigen Mittel. Nicht mehr der angeborene Status ist die Grundlage für seine Position, sondern der freiwillig eingegangene Vertrag. From Status to Contract ist deshalb die Formel, mit deren Hilfe die Soziologie im 19. Jahrhundert die Entwicklung erfaßte und wissenschaftlichen Boden unter die Füße bekam. Henry Maine, britischer Rechtswissenschaftler, beschrieb mit dieser Formel die Veränderung, die sich zuerst in Rom abspielte, als sich von ihrem Hintergrund abgelöste Individuen verschiedenster Herkunft auf dem Forum trafen und miteinander kontrahierten. Damals lernten die römischen Juristen sie als Einzelpersönlichkeiten, als unabhängige, untereinander gleich zu behandelnde Rechtssubjekte zu erfassen. Sie schufen das, was wir zu Unrecht das Römische Recht nennen; denn dieses Konzept wurde nicht für die Römer gemacht, sondern für die neuentstandene, multikulturelle, hochkomplexe Mischgesellschaft: für die Moderne.

Der moderne Mensch befindet sich in einem Vertragsverhältnis, das ihm erlaubt, sich durch ein tauschendes Geben und Nehmen, durch ein do ut des zu ernähren. Er ist deshalb frei, weil er in die Bindungen, die ihn am Leben erhalten, nicht hineingeboren ist, sondern sie selbst freiwillig eingehen und auflösen kann. Die Menschen sind deshalb gleich, weil sie ohne Unterschied als abstrakte Rechtssubjekte solcher Verträge in Frage kommen. Diese faktische Grundlage gibt der demokratischen Auffassung, die Freiheit und Gleichheit als ewige Menschenrechte ansieht, die Eignung, die modernen Gesellschaften – und letzten Endes die Weltgesellschaft – zu organisieren.

Es handelt sich nicht um westlichen Imperialismus, wenn dieses Modell im Vordringen ist, sondern um die Anpassung an die weltweit fortschreitende Auflösung der angeborenen gemeinschaftlichen Verbindungen. Der von Freiheit und Gleichheit ausgehende Universalismus wird der modernen Situation gerecht und ist deshalb kein Oktroy, sondern die angemessene Antwort auf die überall fortschreitende soziale Individuierung: Ohne Freiheit und Gleichheit als rechtlich bewährte, staatlich geschützte Grundmaximen sind die vereinzelten, entwurzelten Menschen wehrlose Opfer der sie umgebenden Mächte.

Umgekehrt ist die Demokratie, die sich diesen Maximen verschrieben hat, angewiesen auf den sich als frei und gleich empfindenden Menschen. Sie verlangt Selbstbewußtsein. Die Grundlage für das moderne Selbstbewußtsein aber ist der Stolz, für sich selbst sorgen zu können. Mit der Arbeitslosigkeit fällt der Mensch aus dem freien Zustand des do ut des zurück in den alten des Status. Denn wie er auch versorgt wird, ob durch das Arbeits- oder das Sozialamt – er verdankt seine Existenz keinem tauschenden Kontrakt, sondern einer angeborenen Rechtsposition: dem Status Mensch, der das Recht auf staatliche Versorgung verleiht.

Die Voraussetzung für die Demokratie schwindet, wenn der Anteil der Menschen wächst, die sich nicht durch ein Tauschverhältnis, sondern durch ihren Status ernähren. Sie geraten in eine abhängige, kindliche Lage und verlieren – bis auf die staatliche Nabelschnur, die sie ernährt – den Zusammenhalt mit der Gesellschaft. Hegel sprach davon, daß die Arbeitslosigkeit „die subjektiven Basen der Gesellschaft“ zerstört. „Würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein“, so wäre das ein Verstoß „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“. Hegel warnte vor dem „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise und dem damit einhergehenden Verlust des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“.

In den letzten 25 Jahren sind Theorien in den Vordergrund getreten, die diese Auffassung leugnen und, statt von der Hegelschen bürgerlichen Gesellschaft, von einer Zivilgesellschaft ausgehen, in der gerade die Randgruppen und unter ihnen gerade die Arbeitslosen eine zentrale Rolle spielen. Der normale deutsche Arbeiter wurde uninteressant. Als man zwar noch auf revolutionären Umsturz aus war, aber die verbürgerlichte Arbeiterklasse nicht mehr als deren Subjekt betrachtete, begann man, seine Hoffnungen auf die nicht integrierten Teile der Gesellschaft zu setzen. Arbeitslosigkeit schien ein Ausdruck der großen Weigerung zu sein, die Herbert Marcuse propagierte.

Auch nach dem Abschied von der Revolutionsidee ließ man sich weiter faszinieren von aller Art abweichenden Verhaltens, von aller Art Subkultur; man verachtete das Normale und bewunderte das Pathologische; man identifizierte sich nicht mit der Mitte der Gesellschaft, sondern mit ihren Rändern, und nahm prinzipiell nur für Minderheiten Partei.

Innerhalb dieser bis heute nachwirkenden peripheren Orientierung haben diejenigen, die neben der bürgerlichen Gesellschaft hergehen, eine besondere, belebende, demokratische Bedeutung. Diese Auffassung ist richtig für einen kleinen Teil der Arbeitslosen, der von dieser Betrachtung deshalb ausdrücklich ausgenommen werden soll; für die Mehrheit aber gilt die Hegelsche Feststellung: Sie verliert mit der Arbeit ihre Verbindung zur Gesellschaft und schwächt das demokratische Potential. Sibylle Tönnies

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