Demokratie in Tunesien: Investieren statt belehren
Tunesiens Demokratie ist im Rückwärtsgang. Durch kluge Investitionen sollten europäische Länder gerade jetzt die demokratischen Kräfte stützen.
N ach den letzten Verhaftungen von Oppositionellen, Gewerkschaftern und Journalisten kann es keinen Zweifel geben, dass die junge Demokratie in Tunesien, wo 2011 der arabische Frühling begann, den Rückwärtsgang eingelegt hat. Das Land galt in der EU lange als demokratischer Leuchtturm. Nun sind Enttäuschung und Ratlosigkeit groß, angesichts des Umbaus Tunesiens zu einem autoritär-konservativen Staat.
Präsident Kais Saied, 2019 vom tunesischen Volk direkt gewählt, hält wenig von Parteien und repräsentativer Demokratie. Erst kürzlich setzte er alle gewählten Bürgermeister*innen ab. Tunesiens neuer starker Mann setzt auf direkte Demokratie mit Kandidat*innen, die keiner kennt. Die geringe Wahlbeteiligung bei den kürzlich abgehaltenen Parlamentswahlen nimmt er in Kauf.
Für die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, den Mangel an Lebensmitteln wie Milch, Butter, Zucker und Mehl, sieht er sich nicht verantwortlich. Kais Saied macht abwechselnd einheimische Wucherer, ausländische Mächte oder die Einwanderer aus Afrika südlich der Sahara als Schuldige aus. Dabei schreckt er auch nicht vor dem Verschwörungsmythos vom großen Bevölkerungsaustausch zurück, wonach Migrant*innen aus Subsahara-Afrika die tunesische Bevölkerung ersetzen sollen. Dafür bekommt er Lob vom rechtsextremen französischen Politiker Eric Zemmour, der seit Langem ins gleiche dumme Horn stößt, und auch von der neuen italienischen Rechtsregierung.
In der Bevölkerung hat der Präsident dennoch weiter großen Rückhalt. Nicht wenige Menschen teilen seine Sicht der Welt. Unterstützung genießt er aber auch deshalb, weil die einst populären Islamisten, die seit Beginn der tunesischen Demokratie an der Macht beteiligt waren, tief in Korruption und Misswirtschaft verstrickt sind. Opposition muss der Präsident bislang nicht fürchten, weil auch die Gewerkschaften, ein wichtiger Pfeiler in Tunesien, mit einigen seiner Maßnahmen durchaus einverstanden sind. Das gilt zumal für die Entmachtung der Islamisten.
Für Deutschland und die anderen europäischen Partner, die lange große Hoffnungen in das Land gesetzt hatten, ergibt sich eine schwierige Lage, nicht zuletzt deshalb, weil nationalistische Stimmen in Tunesien gegen den Einfluss von außen Stimmung machen. In ihren Augen ist die tunesische Zivilgesellschaft, die sich für freie Meinungsäußerung, Rechte von Migrant*innen und Homosexuellen einsetzt, vom Ausland fremdgesteuert – ein verbreitetes Narrativ von Nationalisten, das man auch aus Ländern wie Südafrika oder Russland kennt.
Tunesien für seinen demokratischen Rückwärtsgang zu bestrafen, wie es die jüngste Resolution des EU-Parlaments fordert, oder zumindest weitere Hilfen von Bedingungen abhängig zu machen, wie manche europäische Politiker*innen erwägen, wäre aber in der jetzigen Lage falsch. Das Finanzabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds, das seit vielen Monaten ohne Fortschritte verhandelt wird, darf nicht an der EU scheitern. Es ist nicht der Moment, Tunesien in der Manier des enttäuschten Oberlehrers den Rücken zu kehren, denn Tunesiens demokratische Kräfte brauchen Unterstützung, damit das Land nicht auf einen europafeindlichen Kurs abdriftet.
Armin Osmanovic
ist Büroleiter Nordafrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Deutschland hat es wesentlich in der Hand, dass dies gelingen kann, denn die beiden wichtigsten europäischen Partner, Frankreich und Italien, fallen weitgehend aus, da sie innenpolitisch blockiert sind. Sie wollen in Tunesien vor allem Stabilität und erwarten weitere Zusammenarbeit bei der Abwehr von Migranten und Terroristen. Impulse für eine neue Tunesienpolitik sind aus Paris und Rom nicht zu erwarten.
Berlin sollte es besser machen. Die deutsche Politik kann gerade jetzt helfen, Tunesiens demokratische und europafreundliche Kräfte zu stärken. Belehrung wäre keine Hilfe. Die Tunesier wissen selbst, woran ihre Demokratie leidet und was in ihrer Wirtschaft falsch läuft, dass Reformen dringend notwendig wären. Was Deutschland tun kann, ist, einen anderen Ton in der Migrationspolitik anzuschlagen und die Türen für Tunesier weiter zu öffnen. Die EU stößt mit der restriktiven Visavergabepolitik viele Tunesier:innen, die angelockt von unseren Universitäten und Unternehmen fleißig Deutsch, Französisch und Englisch lernen, vor den Kopf. Das macht sie zur leichten Beute von Nationalisten, die mit ihren Parolen hausieren gehen, dass man von den verlogenen und schwachen Europäern nichts erwarten könne.
Und dann sind da die deutschen Unternehmen, vor allem in der Automobilindustrie, die als faire Arbeitgeber im Land einen guten Ruf genießen. Mehr als bisher kommt es also darauf an, dass deutsche Unternehmen in dem kleinen nordafrikanischen Land, dessen Hauptstadt Tunis nur zweieinhalb Flugstunden von Frankfurt am Main entfernt ist, investieren. Das ist auch im eigenen Interesse – die Pandemie hat die hohe Abhängigkeit von China schmerzlich vor Augen geführt.
Schließlich muss die in Tunesien gewichtige deutsche Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit den Unternehmen alle Anstrengungen unternehmen, um den ökologischen Systemwandel voranzubringen. Noch immer liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion in Tunesien unter 5 Prozent – ein Versagen in dem sonnen- und windreichen Land.
Nur mit einer schnellen Umstellung auf ökologische Kreislaufwirtschaft hat die Demokratie in Tunesien und Nordafrika eine Zukunft. Schon jetzt leiden viele Tunesier unter Wassermangel und nun droht das vierte Dürrejahr in Folge. Gehen Klimaerwärmung und Massensterben im gleichen Tempo weiter oder beschleunigen sie sich noch, wird der Kampf um Wasser und Nahrung die Menschen in Tunesien in den Abgrund reißen – mit oder ohne Kais Saied.
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