: Dem UhrzeigerSinn eine andere Richtung geben
Zeitakademie in Stuttgart: Gewerkschafter sprachen über die Ausprägungen der Vierten Dimension im Beruf, ohne Arbeit und nach Feierabend ■ Aus Stuttgart Uwe Rosentreter
„Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit“ befanden sich kürzlich in Stuttgart Wissenschaftler und Gewerkschafter, Frauen und Männer, Kulturschaffende und Kirchenvertreter. Unter Federführung der Hans-Böckler-Stiftung kam es nach zweijährigen Vorbereitungsphase zu einem von mehreren Einzelgewerkschaften und dem DGB-Landesbezirk getragenen Versuch: Die vielfältigen Aspekte des Themas „Zeit“ öffentlich zu erörtern. Man versprach sich Impulse für eine gesamtgesellschaftliche Orientierung der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik.
Für Stuttgart als Veranstaltungsort entschieden sich die Organisationen nicht zuletzt deshalb, weil hier das WERK (der Name kommt von KunstWERK, GeWERKschaft, WERKstatt) wesentliche Ansätze der „neuen Gewerkschaftspolitik“ mit Leben füllt. Dieses stadtteilbezogene Kulturprojekt befindet sich mittlerweile seit sieben Jahren in der „Modellphase auf dem Schleudersitz“. Will heißen, von Jahr zu Jahr gibt es Schwierigkeiten mit der Finanzierung.
Stets wurde im WERK der Versuch gemacht, die Verbindung zwischen der Zeit für die Arbeit - Gewerkschaftstätigkeit und für den Stadtteil und die Familie - etwa durch die Produktion einer Kinderzeitung - herzustellen. So spiegelten die Veranstaltungen des WERK in dieser „Zeitwoche“ die Arbeit der vergangenen sieben Jahre wider: Vorstellung der durchgeführten Projekte, dazu Filme und Tanz, aber auch die Diskussion. Diskussion über die Zukunft des WERK, aber auch über die persönlichkeitsverändernde Wirkung verrinnender Zeit überhaupt, zum Beispiel im Seminar „Lebenszeiten“.
Ausgangspunkt: eine Geschichte des Autors Peter Bichsel, in der er beschreibt, wie die gemeinsame Kommunikationsebene mit einem langjährigen Freund dadurch verlorengeht, daß dieser Karriere macht und mit seinen Idealen bricht. Das Vergehen von Zeit, die Folgen.
Rasch erkannten die SeminarteilnehmerInnen - es gibt in ihren Erfahrungen ähnliches. Einer stellte fest, daß seine Gespräche über Ernst Bloch mit einem ehemaligen Kommilitonen heute für diesen nur noch legitimatorische Funktion haben: Er sei jetzt zwar groß im Versicherungsgeschäft, aber noch immer ein „guter Linker“, weil er ja über Bloch diskutiere. Der Karrieremacher braucht eine Selbstrechtfertigung für sein Handeln. Ist aber solcher Zwang zur Selbstrechtfertigung nicht systemimmanent? Üben die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht diesen Zwang zur Selbstrechtfertigung aus?
Einstweilen wird es Mittag...
Konkreter wurde es im SALZ, dem Stuttgarter Zentrum für Arbeitslose, die sich früher im WERK trafen. Sie erörterten die Bedeutung der ersten, 1932 erstellten Studie über die Situation Arbeitsloser für ihre heutige Lage. Im 1.500 Einwohner zählenden Industrieort Marienthal in Österreich waren aufgrund der Weltwirtschaftskrise zwei Drittel der arbeitenden Menschen auf einen Schlag arbeitslos geworden.
Die WissenschaftlerInnen Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel räumten gründlich auf mit der These, daß soziale Ungerechtigkeit - durch Arbeitslosigkeit vor Augen geführt automatisch zu politischer Renitenz führe. Sie stellten fest: Arbeitslose lassen sich in ungebrochene, resignierte und gebrochene Menschen einteilen, wobei den beiden letzten Kategorien über 70 Prozent angehörten. Diese Kategorien, stellten die im SALZ diskutierenden Arbeitslosen fest, gelten für sie selbst auch heute noch.
Ebenso die Feststellung der Marienthal-Studie, daß es Männern, die lange Zeit arbeitslos sind, nicht gelingt, einen eigenen Zeitrhythmus aufzubauen. Die Zeitstruktur verschwindet: Die benötigte Zeit für Verrichtungen, welche die Männer in der Studie angaben, entsprach keineswegs der zur Verfügung stehenden Zeitmenge, irgendwo ging Zeit „verloren“. Beispiel: Von sieben bis acht Uhr: Ich wecke die Buben auf, weil sie in die Schule gehen müssen; Von acht bis neun Uhr: Wenn sie fort sind, gehe ich in den Schuppen, bringe Holz und Wasser herauf; Von neun bis zehn Uhr: Wenn ich hinaufkomme, fragt mich meine Frau immer „Was soll ich kochen?“. Um dieser Frage zu entgehen, gehe ich in die „Au„; Von zehn bis elf Uhr: Einstweilen wird es Mittag. Daneben stellte die Studie fest, daß sich der Arbeitstag der Frauen durch Kinderbetreuung und Haushaltsführung immer weiter ausweitet. Das wollten die SeminarteilnehmerInnen für heute nicht mehr gelten lassen: Zum einen schon deshalb, weil sich im Rollenverständnis einiges gewandelt habe. Der zentrale Unterschied jedoch sei die stark veränderte Struktur der Haushalte; auch viele männliche Arbeitslose lebten heute in Einpersonenhaushalten und müßten ihre Hausarbeit selbst besorgen.
Veränderte Zeitstrukturen
Ein Teil der rund einhundert Einzelveranstaltungen der „Zeitakademie“ vollzog sich in größerem Rahmen. In einer Talkshow zum Beispiel, in deren Verlauf treffend festgestellt wurde, hier säßen in der Runde die falschen Leute, „weil wir alle Erfüllung in der Arbeit finden“. Oder die Podiumsdiskussion „Wer beherrscht die Zeit?“, die nicht aus dem abgedroschenen Gewerkschaftervokabular herausfand. Peinlicher noch - der „wahre Widerspruch“ zwischen Kapital und Arbeit wurde (wieder)entdeckt und festgestellt, daß die Widerstände gegen Veränderung nicht bei den Männern lägen, sondern in den Machtverhältnissen der Gesellschaft (AEG -Betriebsrat Reinhard Kühne). Die vehement von den beiden Frauenbeauftragten in die Runde geworfene Antwort auf die Ausgangsfrage: „die Männer“, auch die in den Gewerkschaften, weil „sie auf ihren Posten sitzenblieben“ - war so auf bewährte Weise abgebügelt.
Anderswo ging es da einen Schritt vorwärts. Die älteren Arbeitnehmer zogen Konsequenzen daraus, daß ihre Interessen in den Gewerkschaften kaum wahrgenommen werden. Sie möchten sich selbst organisieren, neue Wohnformen finden ohne Heimcharakter und schon im Alter von fünfzig Jahren zusammen mit Jüngeren an den Ort ziehen, an dem sie ihren Lebensabend verbringen wollen - so die Ideen der „jungen Alten“.
Neuartige Vorschläge machten Wissenschaftler in puncto arbeitsfreier Zeit. Die sollte in längere Blöcke (bis zu einem halben Jahr) eingeteilt werden, um arbeitslosen Menschen zu ermöglichen, sich unter den vorübergehend freien Arbeitsplätzen eine Tätigkeit auszusuchen, die sie gerne ausüben.
Wie weit solche Ideen in alltägliche Gewerkschaftsarbeit einfließen werden, wird sich zeigen müssen - die nächste Tarifrunde in der Metallindustrie steht an. Aber gerade aus dieser Einzelgewerkschaft war die Resonanz auf die Zeitakademie sehr gering. Dennoch kann für mögliche regionale Folgeveranstaltungen auf die breite Unterstützung einer solchen Diskussion durch lokale Initiativen außerhalb der Gewerkschaften gerechnet werden, wie diese Woche zeigte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen