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Debattenort Berliner S-Bahn-RingRedeabteil Nummer X

Die Initiative „Ringrat“ hat keine Lust auf Schweigen. Einmal im Monat erklärt sie einen Waggon der Berliner Ringbahn zum politischen Forum.

Warum an der Uni bleiben, wenn es die S-Bahn gibt? Foto: Karsten Thielker

Berlin, früher Mittwochabend: Es ist warm in der S42, vielen Fahrgästen sieht man an, dass sie gerade von der Arbeit kommen und im Kopf schon zu Hause sind. Wer die Augen nicht zu hat, starrt auf sein Smartphone, hat Kopfhörer auf oder liest. Jede_r, so scheint es, versucht, so zu tun, als ob alle anderen nicht da wären. „Da gehen wir rein“, sagt Jup Löwe und zeigt vom Bahnsteig aus auf das Fahrradabteil der Ringbahn, die gerade in den Bahnhof Westkreuz in Berlin-Charlottenburg einfährt.

Zusammen mit sechs Mitstreiter_innen trägt Löwe einen Klapptisch, eine Schiefertafel und eine kniehohe Thermoskanne in die Bahn und beginnt, an den Haltestangen Pappschilder mit Aufschriften wie „Redeabteil“ oder „Alles ist politisch“ aufzuhängen. Die Studierenden haben keine Lust, sich gegenseitig anzuschweigen: In Zeiten, in denen der politische Diskurs nur noch in Filterblasen vor sich hin blubbert oder man sich im Internet anpöbelt, wollen sie mit realen Menschen ins Gespräch kommen – beim „Ringrat“. Auf der Tafel steht das Thema des heutigen Abends: „G20 – wo warst du? :)“

Seit Beginn des Jahres findet der Ring­rat statt: eine kleiner Gruppe Studierender, die einmal im Monat in die Ringbahn steigt, zweimal um Berlin herumfährt und versucht, mit den Fahrgästen in Dialog zu treten, etwa zu Themen wie „Erziehung“, „Arbeit“ oder auch der Debatte rund um Andrej Holm, den Berliner Gentrifizierungskritiker, der kurzzeitig Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen der rot-rot-grünen Landesregierung war, bevor er über seine Stasivergangenheit stolperte und zurücktrat. „Politisches S-Bahn-Fahren“ nennen die Aktivisten ihre Aktionsform, die 2016 im Rahmen des Seminars „Alle, macht die Räte!“ an der Universität Potsdam entstanden ist.

Dazugehören

„Die politische Diskussion ist komplett vom Alltag abgekoppelt – aber hier kann das stattfinden“, sagt Tom Müller, der Medieninformatik studiert. „Wir wollen ein Forum schaffen. Die Menschen sollen wissen, dass sie dazugehören.“ Dies sei eine sehr viel bessere Methode des Austauschs als etwa eine Demonstration, sagt Löwe: „Durch Demos kommt keine Diskussion zustande. Bei einer Ringrat-Fahrt sprechen wir vielleicht mit 30 bis 50 Leuten – damit erreicht man natürlich weniger Menschen als mit einer Kundgebung oder Flyern, aber es ist intensiver.“

Klingt ein wenig, als wollten linksalternative Akademiker_innen den „kleinen Mann auf der Straße“ von ihren Ansichten überzeugen, doch der Ring­rat funktioniert anders: Die Studierenden hören in erster Linie zu, sind an den Meinungen der anderen interessiert, lassen den Ausgang der Unterhaltungen offen. Und wer von der Arbeit erschöpft ist und einfach nur nach Hause fahren will, dem wird auch kein Gespräch aufgezwungen.

„Wollen Sie vielleicht einen Eistee?“, fragt Löwe freundlich lächelnd in die Runde der Reisenden, die halb neugierig, halb abwesend den mit Bechern, Flyern und Snacks gefüllten Tisch in der Mitte des Abteils zur Kenntnis nehmen – sicher nicht das Merkwürdigste, was sie in der Berliner S-Bahn schon gesehen haben. „Warum nicht?“, sagt eine Frau und nimmt gleich noch einen der Flyer in die Hand.

Das Abteil ist voll, es ist heiß. In einigen Ecken kommen nach dem Eistee­ange­bot aber tatsächlich erste Gespräche zustande, schnell geht es um die „Welcome to Hell“-Demo in Hamburg: „Bevor es überhaupt losging, hat die Polizei angefangen, auf die Demonstranten einzuprügeln – das fand ich so ex­trem! Das konnte ich gar nicht glauben“, sagt eine Frau, nachdem Löwe ihr erklärt hat, was das Thema des heutigen Ring­rats ist. „Da muss man sich nicht wundern, dass es zu Gewalt kommt.“ Auf der anderen Seite des Abteils hört man auch andere Meinungen: „Aus dem Motto „Welcome to Hell“ lässt sich ja schon schließen, dass das keine friedliche Demo ist“, sagt ein junger Mann, der mit einer der Studentinnen diskutiert.

Manche Gespräche dauern nur ein paar Minuten, bis jemand seine Station erreicht hat, andere gehen fast eine halbe Stunde – so manche_r vergisst dabei sogar sein Fahrtziel. Ein älterer Herr mit grauem Vollbart redet lebhaft mit Tom Müller über die Rolle der Polizei: „Dass Polizisten identifizierbar sein sollen, das ist so alt wie die ersten Polizeigesetze!“, sagt er. Doch nun muss er aussteigen, er ist schon mehrere Stationen zu weit gefahren und fährt jetzt wieder zurück.

Die Meinungen der Reisenden seien überraschend vielfältig, sagt Löwe, der gerade ein Gespräch mit einer Ungarin hatte: „Die hat gar nicht gestaunt über das, was in Hamburg passiert ist, sie meinte, in Ungarn passiert das viel häufiger. In vielen anderen Ländern sei Polizeigewalt fast alltäglich.“

Zuhören

Es ist weiterhin voll, Kinderwägen werden hereingeschoben, immer wieder drücken sich Fahrgäste stoisch an dem Tisch vorbei. Eine Frau fotografiert mit dem Smartphone die Statistik über verletzte G20-Polizist_innen ab, die zusammen mit Fotos von den Demos an eines der Fenster geklebt wurde. Ab der Station „Landsberger Allee“ im Prenzlauer Berg wird es leerer.

Tendenziell diskutieren eher diejenigen mit, die die Meinungen der Studierenden teilen, aber es gibt auch Ausnahmen: „Bilder lügen nicht“, sagt ein Mann in Bezug auf die Berichterstattung über G20 und kritisiert die Krawalle. „Aber die Auswahl der Bilder kann trügerisch sein“, versucht Löwe dagegen zu argumentieren und verweist auf die zahlreichen friedlichen Proteste. Doch der Mann bleibt bei seiner Meinung und steigt eine Minute später aus.

Das ist okay, findet Löwe: Das Ziel sei nicht, andere von irgendetwas zu überzeugen, sondern überhaupt miteinander zu reden. „Ich habe mich vorhin mit zwei Italienerinnen unterhalten, die zu mir meinten: In Italien, zum Beispiel in Rom, sei es total üblich, dass man in der Bahn miteinander redet und dort sogar Freundschaften schließt.“ In Berlin ist das eher schwer vorstellbar, doch tatsächlich habe es bislang kaum negative Reaktionen gegeben, sagt Mara Senger, die Kulturarbeit studiert: „Wir sorgen dafür, dass man sich wohlfühlt, und schaffen so eine kleine Wohnzimmeratmosphäre. Im Winter legen wir auch einen Teppich ins Abteil.“ Auch von Bahn-Mitarbeiter_innen gab es bislang keine negative Reaktionen, obwohl der Ring­rat nicht angemeldet ist.

Bei der vorletzten Fahrt gab es allerdings einen kleinen Zwischenfall: Das Ring­rat-Team hatte auf einer linken Website angekündigt, wann und wo man sich zum nächsten Ring­rat treffen werde, und prompt standen vor Beginn der Fahrt am Bahnsteig 20 Poli­zis­­t_­innen und warteten auf die Akti­vis­t_innen. Glücklicherweise wussten die Beamt_innen selbst nicht so genau, wonach sie Ausschau halten sollten. „Wir standen als Gruppe da und waren noch nicht als 'Ring­rat’ zu erkennen“, sagt Löwe. „Die Polizisten haben uns gefragt, ob wir was von einer S-Bahn-Party wüssten, aber wir meinten: Nee, wissen wir nicht, und sind in die Gegenrichtung eingestiegen.“

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3 Kommentare

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  • Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich von der Aktion halten soll. Wenn ich nach einem anstrengenden Tag in der S-Bahn sitze, habe ich nicht immer Lust, über Politik zu diskutieren oder anderen beim Diskutieren zuzuhören. Wenn es relativ leise in einem Teil des Wagens stattfindet, gibt es sicher Schlimmeres.

     

    Vermutlich unbewusst zeigt Herr Wenk aber, wo das eigentliche Problem liegt: Die Studiereden fahren zweimal "um Berlin herum"? Es mag einige aus dem taz-Milieu überraschen, aber auch hinter der Ringbahn kommt noch jede Menge Berlin, und zwar nicht nur die Flughäfen. Ein Besuch erweitert den Horizont unter Umständen sogar mehr als der Besuch der immer gleichen Chiasamen-Veggiburger-Biotope in europäischen Großstädten.

     

    Insgesamt erscheint mir, als ginge es den Studierenden eher ums eigene Ego. Wer mit Menschen anderer Milieus ins Gespräch kommen will, muss dies nicht auf einer Homepage im eigenen Milieu ankündigen und es auf zwei Stunden pro Monat reduzieren. Er muss sich die Zeit nehmen, einfach mal in eine S-Bahn zu steigen und nach Steglitz, Marzahn oder Köpenick zu fahren. Ist aber natürlich nicht ganz so hipp.

     

    Leider agiert die taz auch ähnlich, bezogen auf ländliche Räume: einmal pro Jahr macht man eine groß angelegte Lesetour durch die Provinz, zwischendurch existiert sie quasi nicht in der Berichterstattung.

    • @DaW:

      Insgesamt bleibt ein etwas schaler Beigeschmack. "Seht her, wir sind so offen, wir reden sogar mit dem Pöbel!"

       

      Sicher wollen es die Studierenden nicht so verstanden wissen. Und wahrscheinlich meinten sie es auch gar nicht so. Aber es wirkt eben so - ich würde fast sagen: von oben herab.

       

      Anstatt groß herauszuposaunen, dass man nun tatsächlich mit anderen Menschen redet, sogar aus anderen Milieus - wäre es nicht der bessere Weg, es einfach (ohne große Ankündigung) zu tun und dann Reportagen darüber zu schreiben, was Menschen bewegt? Und zwar eben nicht nur als groß angelegte Wir-kümmern-uns-doch-eh-Aktion alle Jubeljahre, sondern beständig?

  • 3G
    39167 (Profil gelöscht)

    Supergute Idee!

    Wünsche der Gruppe viel Austausch und Überleben.