Debatte: Wenn das Volk mitregiert
Das Volksbegehren gegen die schwarz-grüne Schulreform und der Bürgerentscheid über die Ikea-Ansiedlung in Altona führen in Hamburg zu einer breiten Diskussion über den Sinn und Unsinn direkter Demokratie.
Im Raum 142 des Hamburg-Altonaer Rathauses herrschte am gestrigen Dienstag noch einmal hektische Betriebsamkeit. Acht Mitarbeiterinnen des Bezirksamtes koordinierten den Ansturm der Last-Minute-Abstimmer, die am Schlusstag des Bürgerentscheids über die Ansiedlung einer Ikea-Filiale in dem Bezirk noch schnell ihr Votum in die Urnen stecken wollen.
82.000 von 186.000 wahlberechtigten Altonaern hatten zu diesem Zeitpunkt bereits über die hoch umstrittene Ansiedlung abgestimmt - weit mehr, als als an der vorigen Europawahl teilgenommen haben. Direkte Demokratie im Höhenflug.
"Die Bürger nehmen das Beteiligungsangebot aktiv an", freut sich Bezirksamtssprecherin Kerstin Godeschwege über den Rekordzuspruch. Die rege Beteiligung an dem Bürgerentscheid, der eine ebenso rege Diskussion um die Ansiedlung des schwedischen Möbelriesen hervorrief, scheint allen Befürwortern der Stärkung direktdemokratischer Entscheidungselemente Recht zu geben. Vorbei die Zeit, wo allein die da oben regierten, nichts zu spüren von der allerorts beklagten Politikverdrossenheit. Nun diskutiert und entscheidet das Volk auch in Hamburg munter mit.
Pro Ikea: Am späten Donnerstag sollen die über 80.000 Stimmen des Bürgerentscheids Pro-Ikea ausgezählt sein. Das Bezirksparlament, das für die Ansiedlung ist, will sich nach dem Votum des rund 180.000 Euro teuren Entscheids richten.
Contra Ikea: 9.000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid gegen Ikea hat die Gegeninitiative am Montag dem Bezirksamt übergeben. Sind 5.400 davon gültig kann es noch vor der Sommerpause zu dem zweiten Ikea-Bürgerentscheid kommen.
Doch trotz oder auch gerade wegen dieser Aktivität mehren sich in der Hansestadt die kritischen Stimmen gegen allzu viel Bürgereinfluss. Am vergangenen Wochenende griff Bürgermeister Ole von Beust in die schwelende Debatte ein, beklagte das durch Bürger- und Volksentscheide immer öfter "Partikularinteressen an die Stelle des Allgemeinwohls" treten. Und selbst die Hamburger Grün-Alternative Liste (GAL), bislang entschiedene Vorkämpferin direktdemokratischer Elemente, pflichtete von Beust bei. "Mit Sorge stellen wir fest, dass bei dem Engagement vor Ort häufig der große Zusammenhang nicht mehr wahrgenommen wird", klagt der GAL-Vorsitzende Jens Kerstan im Hamburger Abendblatt.
Ob sozialer Wohnungsbau oder die Drogenhilfeeinrichtung - immer öfter heißt es in Hamburg: Sicherlich notwendig, aber doch nicht vor unserer Haustür. Vor allem in den begüterten Vierteln der Stadt schießen Initiativen für einen Bürgerentscheid aus dem Boden. Denn wer die Hürden für einen Bürger- oder gar einen landesweiten Volksentscheid überspringen will, braucht Organisationskompetenz und jede Menge Kleingeld für eine erfolgreiche Kampagne. In Hamburgs ärmeren Vierteln hingegen ist von direkter Demokratie wenig zu spüren.
Gerade das Bürgerbegehren für Ikea verweist auf einige Webfehler der direktdemokratischen Elemente. Hier sind es vor allem Geschäftsleute aus der Nachbarschaft der geplanten Ansiedlung, die sich eine Belebung auch ihrer Läden durch Ikea-Kunden erhoffen und das Begehren initiierten - eine Investition in zukünftige Umsatzerwartungen.
Die Fragestellung, über die die Altonaer in den vergangenen Tagen abstimmen durften, ist da alles andere als neutral. So werden die Altonaer gefragt, ob sie dafür sind, dass das "Möbelhaus gebaut wird und der Stadtteil dadurch nachhaltig belebt und attraktiver wird?" Wer mag da schon mit "Nein" stimmen.
Die Befürchtung der Ikea-Gegner, dass Altona durch Ikea eine Mietenexplosion und ein Verkehrsinfarkt droht, findet hingegen auf dem Stimmzettel keinen Niederschlag. So haben sie nun selbst 9.000 Stimmen für einen Anti-Ikea-Bürgerentscheid gesammelt, der vermutlich im Sommer über die Bühne gehen wird. Aber für den Fall, dass beide Entscheide eine Mehrheit finden, sehen die gesetzlichen Regularien keine Lösung vor.
Neben finanzstarken Bildungsbürgern schafften es in Hamburg bislang allenfalls noch Interessengruppen wie etwa die Gewerkschaften einen landesweiten Volksentscheid auf die Beine zu stellen, etwa den gegen die Privatisierung der städtischen Krankenhäuser. Die CDU-geführte Landesregierung allerdings ignorierte die Abstimmung komplett und führte den artikulierten Bürgerwillen damit ad absurdum.
Doch damit ist es jetzt vorbei, auch Dank der GAL. Sie setzte in der schwarz-grünen Koalition durch, dass Volksentscheide in Zukunft verbindlich sind. Nun will es die Ironie der Geschichte, dass sich die neue Verbindlichkeit als Erstes ausgerechnet gegen ihren Schöpfer richtet. Eine Volksinitiative mit dem Titel "Wir wollen lernen" droht das grüne Vorzeigeprojekt der Koalition - eine Schulreform, die sechs Jahre gemeinsames Lernen festschreiben will - zu kippen und damit die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch gleich mit.
Mehr als 180.000 Unterschriften von Schulreformgegnern signalisieren, dass das ehrgeizigste Hamburger Reformprojekt der letzten Jahre von einer gut aufgestellten Reformverhinderungsinitiative gestoppt werden könnte. Eifrig bietet die schwarz-grüne Koalition derweil Kompromisse an, die die Reform systematisch amputieren, um zumindest noch einige ihrer Glieder zu retten. Doch da die Reformgegner sich bislang kaum kompromissbereit zeigen, droht Hamburg eine beispiellose Polarisierung vor einem Volksentscheid im kommenden Sommer - Schulfrieden sieht anders aus.
Besonders bei den Grünen haben die jüngsten Erfahrungen mit den direktdemokratischen Elementen eine neue Nachdenklichkeit hervorgebracht. "Im Prinzip" sei sie immer noch dafür, sagt etwa die Hamburger GAL-Chefin Katharina Fegebank, um dann viele Sätze anzuschließen, die mit einem "aber" beginnen. Schon ist auch bei den Grünen davon die Rede, man müsse die Erfahrungen mit der Flut von Entscheiden und Begehren genau evaluieren und gegebenenfalls da nachsteuern, wo "direkt" nicht automatisch auch "demokratischer" bedeutet.
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