Debatte: Der Obdachlose als Diogenes?
■ Was tun für Obdachlose / Ein Debatten-beitrag von Elke Steinhöfel (SPD)
300 BremerInnen sind obdachlos. 100 BremerInnen schlafen lieber bei arktischen Temperaturen im Freien, als in die Notunterkünfte im Jakobushaus oder in der Duckwitzstraße zu gehen – und riskieren sogar ihr Leben. Heide Gerstenberger, Hochschullehrerin und Mitglied im Vorstand des Vereins „Tasse“, hat in der taz Wohnungen für Obdachlose gefordert und die Sozialsenatorin Christine Wischer heftig kritisiert (s.taz v. 4./5.1.1997). Auf ihren Beitrag reagierte nun die SPD-Sozialpolitikerin Elke Steinhöfel. Wir wollen die Debatte fortsetzen. In den kommenden Tagen werden sich an dieser Stelle SozialpolitikerInnen von Grünen, CDU und AfB zu Wort melden.
Daß mehr als hundert Obdachlose in Bremen bei diesen extremen Temperaturen die Straße einer wärmenden Unterkunft in dafür vorgesehenen Einrichtungen vorziehen, ist erschreckend. Frau Professor Gerstenberger begründet das schwer Erklärliche mit Blindheit und Borniertheit der Politikerinnen und Politiker, die obdachlose Menschen angeblich nur „aufs Kreatürliche“ reduzieren.
Das Problem ist nicht Bremen-spezifisch und in sozialen Einrichtungen, wie den Sozialpolitikern und Behörden bekannt. Es gibt eine Gruppe von Obdachlosen, die sich zeitweilig oder für immer gegen alle festen Strukturen wendet, ganz gleich, ob es sich um eine Wohnung oder um eine soziale Unterkunft handelt. Diese Absage an bürgerliche Vorstellungen ist als Ausgangslage festzustellen, wenngleich unsere Gesellschaft sich nicht auf Dauer damit einrichten kann, denn es kann dabei um Leben oder Tod gehen.
Das Jakobushaus der Inneren Mission in Bremen als zentraler Träger der Obdachlosenhilfe differenziert seine Hilfen und paßt sie den unterschiedlichsten Bedürfnissen obdachloser Menschen an – und das mit Erfolg: So stellt das Jakobushaus nicht nur Notunterkünfte zur Verfügung, sondern bietet einen offenen Treff, ein Café und medizinische Versorgung sowie betreutes Wohnen an. Besonders erfolgreich ist die Innere Mission auch darin, kleine Wohnungen für ihre Klienten zu organisieren. Die Kosten von 135 Mark pro Tag beinhalten alle Aktivitäten der Obdachlosenversorgung, und es ist daher unredlich von Frau Professor Gerstenberger, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich hier ausschließlich um Kosten der Unterbringung – so als ob sich die Innere Mission wie ein Hotel an Obdachlosen schamlos eine goldene Nase verdiene. Das, was gegenwartig zusätzlich angeboten wird, Suppe auszuteilen, Kaffee anzubieten, Schlafsäcke bereitzualten, ist positiv, weil es die Möglichkeit eröffnet, erste Kontakte zu knüpfen, und es hilft, lebensbedrohliche Situationen zu vermeiden.
Frau Professor Gerstenberger bleibt die entscheidende Antwort schuldig, wie nämlich den unterschiedlichen Bedürfnissen – und Persönlichkeiten anders oder besser entsprochen werden kann, um Kältetote zu vermeiden. Ein Streit um Ideologien ist ebenso fehl am Platze wie die Illusion, daß jeder Obdachlose ein Diogenes in der Tonne sei.
Elke Steinhöfel (SPD) Sprecherin der Deputation für Soziales und Jugend
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