Debatte Vereinigtes Europa: Der deutsche Europäer
Gerade die Krise zeigt, wie sehr wir die Vereinigten Staaten von Europa brauchen. Nicht zuletzt auch, um den deutschen Wohlstand zu halten.
K leines Identitätsexperiment: Auf die Frage "Where are you from?" während der Reise durch die USA antwortete ich: "Berlin, Europe." Kurze Ratlosigkeit beim Frager. "Du meinst Berlin in Deutschland?"
Nicht ganz. Berlin in Europa. Ein gutes Gefühl im Gespräch - zumindest testweise. Aber irgendwie stimmt diese Herkunftsbezeichnung nicht. Zu allererst bin ich Deutscher. Das einzuräumen habe ich lange gebraucht als Sohn eines Weltkrieg-II-Soldaten, welcher persönlich in Polen und Frankreich einmarschiert ist.
Kleinkram Deutschland
ist taz-Autor und freier Wirtschaftsjournalist. 2008 gründete es die Agentur die-korrespondenten.de, und 2007 erschien sein Buch "Soziale Kapitalisten. Vorbilder für eine gerechte Gesellschaft" (Rotbuch).
Und jetzt will man uns dieses neue, unbelastetere Deutschsein schon wieder nehmen, unsere Identität auflösen in einem Größeren? Wir sollen uns auf den Weg begeben in die Vereinigten Staaten von Europa, hat Ministerin Ursula von der Leyen unlängst postuliert. Und auch in Intellektuellenkreisen wird dieser Gedanke diskutiert.
Welchen Sinn aber hat diese Idee - gerade jetzt, da Europa unter der Schuldenkrise beinahe in die Knie geht? Oberflächlich mag sich von der Leyen erhoffen, die verschwenderischen Griechen deutsche Sparsamkeit lehren zu können. Aber auch von solch euro-nationalistischen Motiven abgesehen treibt die Schuldenkrise die europäische Integration voran. Der Stabilisierungsfonds EFSF gibt längst gemeinsame europäische Staatsanleihen heraus, die Union und FDP noch verhindern wollen.
Und weitere Schritte einer supranationalen Finanzpolitik werden folgen. Staaten mit einheitlicher Währung, die sich gemeinsam verschulden, müssen ihre Schulden auch gemeinsam reduzieren. Das kann ein europäischer Finanzminister mit eigenen Abgesandten in den 17 Euro-Hauptstädten viel effektiver als der heute regierende Rat der nationalen Finanzminister, die im Konfliktfall lieber ein gemeinsames Foto machen als harte Entscheidungen zulasten eines Mitgliedslandes zu treffen. Aber brauchen wir wirklich mehr Europa? Was würde das bringen - jenseits der Schuldenkrise?
Als Deutscher denkt man intuitiv, wir seien eine große Nummer. Gewiss sind Porsches, Panzer und Fotovoltaik-Module aus hiesiger Produktion überall gefragt. Trotzdem: Wenn ein deutscher Wirtschaftsminister bei irgendeiner internationalen Tagung etwas sagt, hören ihm vielleicht die Letten zu. 80 Millionen Einwohner, 2.500 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung? Kleinkram in den Augen der Chinesen, Inder und Brasilianer. Diese Haltung der Newcomer mag großkotzig sein, ist in der Tendenz aber berechtigt.
Europäer aus reinem Egoismus
Eine ganz andere Rolle spielen wir als Teil der Europäischen Union: 500 Millionen Einwohner, 12.700 Milliarden Euro gemeinsames Bruttoinlandsprodukt. Die EU ist die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Wenn der europäische Wirtschaftskommissar beim Treffen der G-20-Gruppe im Namen der 27 Staaten sagen würde: Nein, so läuft das nicht, könnten auch die USA und China nicht daran vorbei.
Heute kommt das zu selten vor. Im Kreis der G 20 sitzen die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Briten und widersprechen sich gegenseitig bei jedem zweiten Tagesordnungspunkt. Würde Europa nur durch einen Repräsentanten vertreten, hätte seine Stimme viel größeres Gewicht.
Das liegt in meinem Interesse - und bildet den Kern der Chiffre "Vereinigte Staaten von Europa": Sie kann die persönlichen Interessen der Bürger wieder mit einer Idee von Europa verknüpfen. Dieses positive Bild besteht darin, unser vergleichsweise gutes Leben aufrechtzuerhalten, indem wir unsere Wohlstandsproduktion schützen. Einfach gesagt: Ein guter Teil der neuen Elektroautos muss in Europa hergestellt werden, nicht in China oder Indien. Mit Wirtschaftsimperialismus oder Hartherzigkeit gegenüber armen Ländern hat das nichts zu tun.
Es geht darum, unsere Lebensqualität zu sichern und in den kommenden Jahrzehnten nicht allzu viel einzubüßen. Politische Macht bedeutet wirtschaftliche Macht. Diese wiederum bringt Gewinne, Steuereinnahmen und Sozialbeiträge. Das heißt: Als Vereinigte Staaten von Europa können wir uns ein höheres Sozialniveau leisten. Wir haben mehr Geld für Kitas, Schulen, Krankenkasse und Arbeitslosenversicherung.
Der Mindestlohn wird kommen
Das gilt grundsätzlich - eine wichtige Einschränkung. Heute suggerieren Nationalregierungen und EU-Kommission oft, sie wollten soziale Sicherheit für alle Europäer, betreiben in Wirklichkeit aber Deregulierung. Das braucht nicht so zu bleiben. Beispiel Mindestlohn: Viele unserer Nachbarn haben eine gesetzliche Lohnuntergrenze, wir nicht. Doch auch Deutschland wird allmählich europäisch. Jetzt fordern schon Leute in der CDU einen Mindestlohn für alle. Er wird kommen. Europa zivilisiert Deutschland. Das ist gut für die Beschäftigten hier.
Doch die Bürokratie von Brüssel - wollen wir davon etwa auch mehr? Der Moloch der Euro-Beamten, so weiß die Öffentlichkeit, macht die Gurke gerade und vereinheitlicht die Größe des Hühnereis. Er plant das, was nicht geregelt werden muss, und lässt liegen, was man erledigen sollte, kurz: Er sitzt den Menschen im Nacken, anstatt sie zu unterstützen.
Solche Vorurteile sind Indizien für die Fehlsteuerung der EU. Die Verwaltung ist zu stark. Es fehlt eine effektive gemeinsame Regierung, die die Beamten anweist, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern. Außerdem mangelt es der EU an demokratischer Legitimierung. Wenn die Vereinigten Staaten von Europa eine Zukunft haben sollen, dann nur mit vollen Rechten des Parlaments in Straßburg. Denn solange die Bürger nicht die Gewissheit haben, auf europäischer Ebene wirksam vertreten zu werden, wollen sie ihren Einfluss lieber in den nationalen Parlamenten konservieren und widersprechen dem Machtzuwachs europäischer Institutionen.
Heute mögen die Vereinigten Staaten von Europa unrealistisch erscheinen. Aber als mein Vater zusammen mit anderen europäischen Föderalisten 1950 die Schlagbäume an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich abbaute, konnte er sich auch nicht vorstellen, dass man heute von Helsinki nach Lissabon ohne Pass reisen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter