Debatte US-Kongresswahlen: Obamas letzte Chance
Die Wirtschaftskrise beherrscht das nationale Bewusstsein. Bei den Republikanern beginnt jetzt das Rennen, wer 2012 als Kandidat antritt.
N ur Historiker werden eines Tages bewerten können, ob diese Kongresswahlen vom 2. November 2010 "historisch" - im Sinne von wichtig - waren. Kurzfristig lässt sich nur feststellen, dass die Partei des Präsidenten ihren größten Verlust im Repräsentantenhaus seit 1946 eingefahren hat. Damals wurde Präsident Truman gleichwohl zwei Jahre später wiedergewählt. Ob Barack Obama das auch gelingen wird, ist eine sehr offene Frage - immerhin befindet sich seine Präsidentschaft schon seit einer ganzen Weile in der Krise.
Die Wahlbeteiligung lag schätzungsweise bei rund 40 Prozent. Zum Vergleich: Bei der Präsidentschaftswahl von 2008 gaben noch 61 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wähler von heute waren älter und weißer. Viele der Jungen, der Afroamerikaner und der Latinos - also genau diejenigen, die Obama ins Weiße Haus gebracht haben - sind zu Hause geblieben. Frauen, die vor zwei Jahren mehrheitlich für Obama votierten haben, verteilten jetzt ihre Stimme gerecht auf beide Parteien.
Die bedeutsamsten Verluste erlitten die Demokraten in Staaten wie Ohio, Pennsylvania, Wisconsin (die unverzichtbar für einen Sieg im Jahre 2012 sein werden) - und zwar vor allem bei den Wählern aus der weißen Arbeiterklasse. Von den Gewerkschaften überredet und mit Blick auf die miserable Wirtschafts-Performance der Bush-Regierung hatten sie sich noch vor zwei Jahren für einen Afroamerikaner, der den Wechsel versprach, entschieden.
Drückende Arbeitslosigkeit
Norman Birnbaum, 1926 in New York geboren, lehrte als Professor für Soziologie an der Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kennedy. Er war Mitbegründer der New Left Review und arbeitet heute unter anderem für The Nation.
Es stimmt ja: die Regierung Obama hat mit ihren Rettungs- und Konjunkturprogrammen die Wirtschaft vor einer noch schlimmeren Rezension, gar vor einem Kollaps bewahrt. Aber dieses Argument zieht bei den Erwerbslosen nicht - und deren tatsächliche Rate übersteigt die offizielle Zahl von neun Prozent bei weitem, sie liegt nämlich bei 15 Prozent. Viele andere mehr fürchten, dass auch sie bald ihren Job verlieren werden. Und sie sind wütend über die Konzessionen, die diese Regierung den Banken gegenüber gemacht hat.
Ganz klar beherrscht die Wirtschaftskrise das nationale Bewusstsein. Die brutale Rhetorik derer, die den Staat als übermächtig und gierig darstellen, verstärkt die Unsicherheit und die Paranoia vieler Amerikaner weiter. Gleichzeitig wirkt Obamas Appell, doch bitte mehr Geduld zu haben, wie eine Bevormundung der ganz normalen Bürger von sehr weit weg.
Dennoch verfügt Obama, trotz der Niederlage, auch weiterhin über reichlich Macht. Mit ihr und einer Mehrheit im Senat kann er die Republikaner, die nun die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen, zu Kompromissen zwingen. Viele Demokraten, die ihren Sitz verloren haben, hatten mit der Tradition des New Deal ohnehin nichts am Hut - und die verbliebenen werden von ihrem Präsidenten mehr Kampfgeist fordern. Immerhin vertreten die meisten von ihnen eine Wählerschaft, die sich eine aktive und eingreifende Regierungspolitik wünscht.
Bei den Republikanern ist nun der Kampf um die Nominierung eines Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl eingeläutet. Das vulgäre Ressentiment von Sarah Palin sowie die Niederlage der unfähigen und dummen, aber von ihr unterstützten Kandidaten hat die Republikaner die mögliche Mehrheit im Senat gekostet. Und die Älteren unter den Republikanern sind sich ziemlich im Klaren darüber, dass sich mit Kamikaze-Taktiken keine nationalen Mehrheiten gewinnen lassen.
Ein Katholik aus New Jersey
Letztlich könnte es deshalb gut sein, dass am Ende so jemand wie der Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, aufgestellt wird. Seine hauptsächliche Leistung besteht darin, dass er den Bau eines dringend benötigten Eisenbahntunnels in New York verhindert. Gleichzeitig dürfte der neue kubanischstämmige Senator von Florida, Marco Rubio, die Hälfte der Latino-Stimmen auf sich vereinigen können.
Die Spendengeber der Republikaner aus der Geschäfts- und Finanzwelt haben ihre Prioritäten: Deregulierung, Steuersenkungen, die sukzessive Abschaffung des amerikanischen Sozialstaats und die Privatisierung all dessen, was von der öffentlichen Infrastruktur noch übrig ist. Chris Christie, ein erzreaktionärer Katholik, der übrigens viel Ähnlichkeit mit dem ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger aufweist, ist da genau der Politikertypus, den die Republikaner mögen und brauchen.
Bald Streit um Sozialkürzungen
Im Januar wird dann das erste bedeutsame Ereignis auf den neuen Kongress zukommen. Zuvor, nämlich im Dezember, wird die vom Präsidenten eingesetzte Kommission über die Staatsverschuldung ihren Bericht vorlegen und damit womöglich eine Debatte anstoßen, die einer Neuauflage vergangener Diskussionen gleich kommt: Dann nämlich, wenn der Kongress fordert, den Rentnern ihre Bezüge und staatlichen Zuschüsse für ihre Krankenversicherung zu kürzen. Man kann davon ausgehen, dass die Antwort des Präsidenten auf diese Forderungen die Themenagenda der nächsten zwei Jahre bestimmen wird.
Kritiker, welche die parlamentarische Demokratie von heute vor allem für ein Ritual halten und jede Substanz vermissen, haben nicht ganz unrecht. Die wichtigste Nachricht aus den USA in dieser Woche waren denn auch nicht die Wahlergebnisse, sondern die verzweifelte Entscheidung unserer Zentralbank, Fonds in Höhe von Hunderten von Millionen zu kaufen.
Begleitet wurde dieser Schritt von einer erstaunlich ehrlichen Erklärung: nämlich, dass sich die wirtschaftliche Erholung bis auf Weiteres verzögere. Indessen, und auch das blieb während des Wahlkampfs unerwähnt, höhlen die finanziellen, moralischen und politischen Kosten des Imperiums und seiner Kriege die Substanz der Nation aus. Nicht Sarah Palin, sondern General Petraeus dürfte dem Präsidenten in den kommenden zwei Jahren zur Plage werden.
Obama wollte diesen Job. Vielleicht schafft er es ja noch - wie John Kennedy und Bill Clinton vor ihm -, endlich in sein Amt hineinzuwachsen.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ines Kappert
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