Debatte Syrien: Hinsehen statt zusehen
Ignoranz oder militärische Intervention? In Deutschland verkennt man die Situation im Land. Denn es gibt längst einen richtigen „dritten Weg“ in Syrien.
M it den schrecklichen Bildern der jüngsten Massaker hat die Frage nach einer militärischen Intervention der westlichen Staaten die Syrien-Diskussion voll im Griff. Auch Merkel und Westerwelle nehmen den Gedanken dankbar auf, nur um die Option sofort wieder auszuschließen. Inhaltlich ist das richtig, doch das Problem ist die Debatte selbst.
Denn einerseits lässt sich durch das ständig wiederholte „Dampfgeplauder“ (de Maizière) über eine militärische Intervention das tatenlose Zuschauen der Weltgemeinschaft bestens rechtfertigen. Statt einen genaueren Blick auf die Lage in Syrien zu werfen, verengt sich die Debatte auf die große Politik mit den zwei Optionen Militärintervention oder tatenlose Zusehen – und der schwarze Peter wird Russland zugeschoben.
Andererseits fehlt der Debatte die realpolitische Grundlage: Von Beginn des Aufstands an haben Nato wie Arabische Liga einer Offensive eine Absage erteilt. Und trotz politischer Debatte fehlt jedes Anzeichen, dass sich daran etwas ändern könnte. Selbst hohe Militärs raten öffentlich vom Kampf mit der hochgerüsteten syrischen Armee ab, würde der doch nur noch mehr zivile Opfer fordern.
Scheindebatte in Endlosschleife
Politikwissenschaftler, war seit Beginn des Aufstands oft in Syrien. Gemeinsam mit Andre Find gründete er das Projekt Adopt a Revolution. Hier können durch „Revolutionspatenschaften“ BürgerInnenkomitees in Syrien unterstützt werden.
Dass die Diskussion eine Scheindebatte ist, macht sie nicht weniger gefährlich. Denn erst dadurch erscheint die zweite militärische Option, die Bewaffnung der Freien Syrischen Armee, als vernünftige Alternative. Aber unkontrolliert Waffen in das multikonfessionelle Syrien zu schicken, würde spätestens nach dem Ende des Assad-Regimes das Land massiv destabilisieren. Die Rebellenarmee verfügt nicht einmal über eine zentrale Kommandostruktur. So kann sie die Verbreitung der Waffen nicht kontrollieren, geschweige denn die offizielle Armee militärisch bezwingen.
Reicht angesichts dieser Bilanz in der Syrien-Frage der Blick auf die große Politik? Bleibt bei der richtigen Ablehnung einer militärischen Intervention nur das tatenlose Zusehen? Ist vielleicht bereits der viel beschworene Bürgerkrieg ausgebrochen, der die Zivilgesellschaft längst marginalisiert?
Antworten geben die SyrerInnen selbst: Die direkte Reaktion auf das Massaker von Hula war ein landesweiter Streik. Die konservativen HändlerInnen, die bisher auf Assad als Garant für wirtschaftliche Stabilität gesetzt hatten, ließen ihre Geschäfte geschlossen. Fast verzweifelt klingt die Erklärung des Innenministers, die Geschäftsleute seien zum Flughafen gefahren, um die ausgewiesenen Botschafter in Empfang zu nehmen.
Auch die täglichen Demonstrationen und Proteste weiten sich ständig aus: In der Innenstadt von Aleppo fand das erste Mal eine Massendemonstration statt, nachdem es bei Angriffen auf protestierende StudentInnen an der Universität vier Tote gegeben hatte. Die wohlhabenden HändlerInnen der Stadt drückten ihre Solidarität aus, schwenkten die Revolutionsfahne und machten in Sprechchören keinen Hehl daraus, dass das Regime ihre Unterstützung endgültig verloren hat. Der Dank der AktivistInnen folgte eine Woche später, als das Motto für die landesweiten Freitagsdemonstrationen lautete: „Revolutionäre und Händler Hand in Hand“.
Das Rückgrat der Proteste
Aber ja, es gibt auch weiter bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Rebellen und offiziellen Sicherheitskräften. Doch zahlenmäßig sind sie im Verhältnis zur Masse der zivilen Aktionen eine Randerscheinung. Dass hierzulande die Berichterstattung über die Kämpfe dennoch überwiegt, verzerrt unser Syrienbild massiv: Das Rückgrat des Aufstands ist der zivile Widerstand, und erst der hat dazu geführt, dass die Proteste gegen das Assad-Regime 15 Monate lang durchgehalten haben.
Den Demonstrationen und kreativen Protestaktionen haben sich im Lauf der Zeit immer mehr Menschen angeschlossen, der Zulauf der bewaffneten Kämpfer hält sich in Grenzen. Während Letztere nur in einigen wenigen Regionen des Landes aktiv sind, gibt es Demonstrationen und Proteste fast landesweit, etwa am letzten Freitag an über 540 Orten.
Wer den zivilen Widerstand nicht wahrnimmt, spielt der riskanten Entweder-oder-Logik in die Hände. Denn auch das Regime versucht bereits seit Beginn des Aufstands, die Menschen durch brutale Gewalt in die Bewaffnung zu treiben. Ein Bürgerkrieg würde noch dem letzten Militärstrategen einen Einmarsch in Syrien versauern – während gleichzeitig schutzsuchende Minderheiten die Machtbasis der Regierung stabilisieren würden.
Die gut ausgebildete syrische Armee kann mit bewaffneten Konflikten umgehen, und Legitimität für brutales Vorgehen gegen schießwütige Rebellen ist billig. Dagegen muss das Militär mit seinen Mitteln und Methoden den Kampf um die Köpfe verlieren: Der Umgang mit unbewaffneten Protesten ist schwieriger und die Reaktion auf die blutig niedergeschlagenen StudentInnenproteste in Aleppo zeigt, welche Solidarisierungsprozesse das auslöst.
Zivile Unterstützung ist gefragt
Im letzten Jahr hat das Regime viele Wege versucht – von halbherzigen Reformen über Versuche der ethnischen Spaltung bis zur brutalen Verfolgung – doch gegen den zivilen Aufstand hat es keinen Weg gefunden.
Anstatt Handlungsunfähigkeit einerseits und die gefährliche Scheindebatte um eine Militarisierung andererseits als die einzigen Alternativen darzustellen, sollten wir dringend einen dritten Weg der zivilen Unterstützung des zivilen Aufstands einschlagen. Dieser muss eine Aufstockung der UN-Beobachtermission auf mindestens 3.000 Blauhelme beinhalten.
Vor allem aber braucht es eine direkte Unterstützung des zivilen Widerstands: Kommunikationsmittel (abhörsichere Mobiltelefone, Empfänger für Satelliteninternet), Wissenstransfer und Trainings in verschiedenen Methoden zivilen Ungehorsams und die medizinische Versorgung von verletzten AktivistInnen werden dringend benötigt.
Wie dringend, zeigt sich etwa daran, dass die Union Freier StudentInnen in Syrien nicht einmal die medizinische Behandlung eines zusammengeschlagenen Aktivisten sicherstellen kann – von der Einrichtung eines Büros als Arbeitsplatz ganz zu schweigen. Natürlich kann diese Unterstützung die Angriffe und das Töten durch Militär und Rebellengruppen nicht sofort beenden. Doch die Streiks, Demonstrationen und kreativen Proteste haben einen unschätzbaren Wert, wenn es darum geht, dem Bürgerkrieg und der konfessionellen oder ethnischen Spaltung etwas entgegenzusetzen.
Für die kommenden Wochen und Monate haben die StudentInnen zu einem Boykott ihrer Prüfungen aufgerufen, Mitte Juli beginnt der Ramadan, und BeobachterInnen erwarten tägliche Massendemonstrationen. Wir müssen nicht zusehen, wie Syrien in einen Bürgerkrieg rutscht, und militärisch werden wir nicht intervenieren. Es gibt einen dritten Weg – wir müssen ihn nur gehen.
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