Debatte Steuern: Die Steuerwampe

Die Rede vom "Mittelstandsbauch" ist genial - weil sie so irreführend ist.

Das Wort klingt nach Leberwurst, die sich zu einer Wampe verdichtet hat. Und doch gibt es keinen Reformvorschlag bei der Einkommensteuer, der nicht diese Begriffsschöpfung bemühen würde: Der "Mittelstandsbauch" erdrückt inzwischen jede Diskussion.

Als Polit-Metapher ist er genial, weil er so hässlich ist. Vor dem geistigen Auge quellen überflüssige Körperpfunde hoch. Und Hässlichkeit verträgt sich nicht mit der angestrebten Rationalität eines Staates. Intuitiv leuchtet sofort ein, dass Fettbeulen im Steuertarif zu verabscheuen sind.

Eine Reform muss also her! Würde sich ein Superduper-Marketingstratege eine geniale PR-Kampagne überlegen, um Steuererleichterungen für die Besserverdienenden durchzudrücken: Er müsste den Mittelstandsbauch erfinden, wenn es ihn nicht schon gäbe.

Der Mittelstandsbauch bezeichnet eine Wölbung im Steuertarif, die dazu führt, dass Normalverdiener besonders stark belastet werden. Die aktuellen Grenzsteuersätze steigen gerade zu Beginn rasant an. Werden bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 8.004 Euro nur 14 Prozent fällig, sind es bei 13.469 Euro schon 24 Prozent. Danach flacht die Progression stark ab, bis sie dann bei 52.882 Euro den Spitzensteuersatz von 42 Prozent erreicht.

Mit Logik ist der deutsche Steuertarif nicht zu erklären. Stellt man ihn graphisch dar, dann sieht er aus wie ein Hügel mit einem zackigen Felsvorsprung, weswegen der Begriff "Mittelstandsbauch" auch nicht ganz die passende Metapher ist. Eigentlich müsste es "Mittelstandsecke" heißen, wie der Bund der Steuerzahler sehr richtig anmerkt.

Nun ist es zweifellos ungerecht, dass Steuerzahler mit einem eher geringen Einkommen einer besonders starken Progression unterworfen werden. Trotzdem ist Misstrauen angebracht, wenn Union und FDP nun Abhilfe versprechen. Denn zu den Wundern der deutschen Finanzpolitik gehört, dass seit 1958 zwar gern an den Steuertarifen herumgebastelt wurde - sich aber trotzdem meist ein Mittelstandsbauch aufblähte. Offiziell sollte den Geringverdienern und normalen Familien geholfen werden, tatsächlich profitierten dann besonders die Bessergestellten. (Wer sich für die Historie des Mittelstandsbauchs detailliert interessiert: Der Steuerzahlerbund hat die verschiedenen Tarife seit 1958 archiviert. Anruf genügt.)

Zu den Wundern rund um den Mittelstandsbauch gehört auch, dass es durchaus einmal eine Phase gab, in der diese Steuerwampe verschwunden war und Normalverdiener nicht sprunghaft belastet wurden: Diese Ära der Übersichtlichkeit brach interessanterweise unter Kanzler Helmut Kohl aus. Nach der Wiedervereinigung, ab 1990, hatte Deutschland plötzlich einen linearen Steuertarif, der keine seltsamen Beulen mehr aufwies.

Der Mittelstandsbauch wölbte sich erst wieder unter Rot-Grün und wuchs ab 2002 immer stärker an. Ausgerechnet die Sozialdemokraten versuchten die "Mitte" zu täuschen, die sie doch angeblich zu ihrer Kernwählerschaft erkoren hatten.

An der Oberfläche wirkte es zwar, als würden die Geringverdiener und die Mittelschicht stark entlastet, weil der Freibetrag unter Rot-Grün von 6.322 auf 7.664 Euro angehoben wurde und der Eingangssteuersatz von 25,9 auf 15 Prozent fiel. Tatsächlich jedoch haben die unteren Schichten dieses Geschenk teilweise selbst finanziert, weil der Tarif anschließend umso steiler anstieg.

Die rot-grünen Steuerreformen bedeuteten für einen Single mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 30.000 Euro, dass er jährlich 1.329 Euro an Steuern sparen konnte, wenn man seine Belastung von 1998 und 2005 verglich. Das war bestimmt willkommen - und ließ vergessen, dass ein Single mit 150.000 Euro im Jahr sogar 12.722 Euro geschenkt bekam. Denn gleichzeitig fiel der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent.

Es ist kein Zufall, dass Rot-Grün den Mittelstandsbauch just in dem Moment wieder aufgepumpt hat, als der Spitzensteuersatz fallen sollte. Mit diesem Täuschungsmanöver wollte man eine scheinbare Symmetrie bei den Steuergeschenken für die Armen und die Reichen schaffen. Wenn der Spitzensteuersatz um 11 Prozentpunkte auf nur noch 42 Prozent sank, dann sollte es so wirken, als würde auch der Eingangssteuersatz um 11 Prozentpunkte nachgeben. Deswegen war es so wichtig, dass dort eine 15 stand. Ohne die Konstruktion mit dem Mittelstandsbauch hätte der Eingangssteuersatz bei etwa 20 Prozent gelegen. Doch sollte die Mittelschicht eben nicht sofort bemerken, dass sie mit so wenig abgespeist wird.

Täuschung der "Mitte"

Nun wäre es allerdings ein Missverständnis, allein Rot-Grün zu beschimpfen. FDP und CDU haben an diesen Steuerreformen kräftig mitgewirkt, da sie die Mehrheit im Bundesrat besaßen. Union und Liberale beklagen zwar gern den Mittelstandsbauch - aber sie haben ihn selbst beschlossen.

Zu vermuten ist, dass FDP und Union schon damals klar erkannt haben, dass sich der Mittelstandsbauch als potente ideologische Waffe erweisen würde. Erst haben sie mit seiner Hilfe Steuersenkungen für die Spitzenverdiener finanziert - und nun gewinnen die Besserverdienenden erneut, wenn der Mittelstandsbauch wieder abgesaugt wird. Denn es gehört zur Systematik der deutschen Einkommensteuer, dass auch die Reichen automatisch profitieren, wenn die unteren Tarife reformiert werden.

Die Mittelschicht befindet sich in einem Dilemma. Sie möchte nicht länger am Mittelstandsbauch schleppen, was verständlich ist. Aber solange sie nur auf diese Wampe starrt, wird sie auch die Interessen der Eliten bedienen. Die Mittelschicht muss darauf achten, dass der Spitzensteuersatz wieder erhöht wird, wenn die Steuerbeule abgeflacht wird. Sonst wäre eine Strategie aufgegangen, die FDP und Union schon seit fast einem Jahrzehnt verfolgen.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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