Debatte Soziologie: Verdrängte Vielfalt
Vor 100 Jahren fand der erste "Deutsche Soziologentag" statt. Doch statt über Klassenfragen redete die junge Zunft über Rassentheorien.
Etwa 50 Herren - Damen waren offenbar nicht dabei - kamen vor hundert Jahren, am 21. Oktober 1910, in Frankfurt am Main zum "Ersten Deutschen Soziologentag" zusammen. Er sollte helfen, die Agenda der neuen Disziplin auszuloten. Das Ziel war durch Max Weber und dessen programmatische, gegen die "Kathedersozialisten" gewandten Schriften bereits vorgegeben, nämlich einen eher kosmopolitisch orientierten Marxismus von einer national orientierten, bürgerlichen Soziologie fernzuhalten. Oder, in Werner Sombarts späteren Worten: eine "undeutsche", "wurzellose" und "jüdisch beherrschte" Bewegung aus dem neuen Fach auszuschließen.
Worüber aber sollte die Zunft angesichts einer massiv erstarkenden Arbeiterbewegung dann diskutieren? Die Lösung war schnell gefunden: über die damals populäre Rassenhygiene mit ihrem ausdifferenzierten Korpus an eugenischen Theorien und Rassenideologemen. Diese Theorien wurden gefördert durch die neue koloniale Erfahrung mit "inferioren" Völkern, aber auch dem Zusammenbruch der alten Feudaleliten in Deutschland und der Formierung einer vermeintlich chaotischen, moralisch suspekten und ethnokulturell diversen Arbeiterklasse in den expandierenden Städten; auch die deutsche "Entdeckung" des ethnisch heterogenen Amerika spielte eine Rolle.
Die Rassentheorie diente dazu, von der Klassenfrage abzulenken und sie durch die Frage nach dem Volk und dem "Volkskörper" zu ersetzen. Dies wurde durch Sombart spätestens auf dem Zweiten Soziologentag 1912 unverblümt ausgesprochen: "Aber wir wollen doch nicht das große augenblickliche Verdienst der Rassentheorie unterschätzen, dass sie uns von der Alleinherrschaft der materialistischen Geschichtsauffassung befreit, uns endlich wieder einen neuen Gesichtspunkt gegeben hat."
Gesellschaft als Organismus
Die heftigen Debatten auf den ersten beiden Soziologentagen in den Jahren 1910 und 1912 sind ein gutes Indiz dafür, wo die sich herausbildende deutsche Soziologie damals stand. Einer der führenden Rassenbiologen seiner Zeit, Alfred Ploetz, durfte einen langen Vortrag präsentierten: Menschliche Gesellschaften sollten als "ganzheitliche Organismen" gesehen werden, so seine These, den Bienen- und Ameisenkolonien nicht unähnlich. Tönnies fasste die "gegensätzliche Tendenz" dieses "Gesellschaftskörpers" bündig zusammen: "Einmal die Tendenz, der Gesellschaft zu helfen und also die Schwachen zu unterstützen; andrerseits aber das Interesse der Rasse, der biologischen Dauereinheit, sich zu erhalten." Letzteres Interesse fordere die Ausmerzung der Schwachen, während die Gesellschaft die Schwachen erhalten wolle.
Dem Vortrag des Rassenbiologen schlug wenig Ablehnung entgegen, von Empörung konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Sympathisanten der Rassenbiologie forderten die Soziologie auf, Phänomene wie Landstreicherei, Betteln, Prostitution, sexuelle Perversion und Jugendkriminalität zu erklären. Umweltbezogene Erklärungen wurden als "mit der Sozialdemokratie verbunden" abqualifiziert.
Flucht in die "Negerfrage"
Erstaunlicherweise fand in dieser Debatte weder der mögliche genetische oder kulturelle Charakter der deutschen Arbeiterklasse Erwähnung, noch kam das Phänomen "des Fremden" oder "des Juden" zur Sprache. In den Augen der Mehrzahl sowohl der versammelten Soziologen als auch der Rassenbiologen schien Deutschland offenbar ethnisch homogen: die Dänen und Friesen im Norden, Belgier und Elsässer im Westen sowie die Immigration von Osteuropäern und Ostjuden wurden ignoriert. Stattdessen wurde die Debatte auf ein sichereres und exotischeres Terrain verschoben: die Vereinigten Staaten und die dortige "Negerfrage". Ploetz meinte, die Schwarzen in den USA würden "ausgeschlossen aufgrund ihrer Inferiorität im geistigen und sittlichen Sinne" - ein Gedanke, den Max Weber verwarf.
Der zweite Soziologentag befasste sich auf Vorschlag von Ferdinand Tönnies mit den "Begriffen von Volk und Nation mit Bezug auf Rasse, Staat und Sprache". Werner Sombart und auch Max Weber hatten erkannt, dass die jüdische Frage dabei ein wichtiges Thema war. Doch diese Frage, ganz zu schweigen von der Frage des Antisemitismus in Deutschland, wurde auf den Soziologentagen vor dem Ersten Weltkrieg praktisch nie thematisiert.
Was macht eine Nation aus?
Bemerkenswert war am zweiten Soziologentag von 1912 vielmehr die klassifikatorische Dürre und Lustlosigkeit der Beiträge. Trotz der virulenten Nationalismen, die zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Europa grassierten, schien sich das Gros der Soziologen vor allem für das Thema Rasse zu interessieren, während die Debatte zu Nation, Ethnos und Rasse eine Idee des Soziologentriumvirats Weber, Tönnies und Sombart gewesen zu sein scheint. Erst auf dem letzten Soziologentag vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1930 und unter den Vorzeichen des ansteigenden Faschismus und Antisemitismus kam wieder ein ethnonationales Thema auf die Tagesordnung: das der "deutschen Stämme" wie der Bayern oder der Sachsen. Dieses Panel aber versank in rassisch-germanischen Diskursen und schloss nichtdeutsche Minoritäten aus.
ist Professor für Soziologie an der University of Toronto, er lebt in Kanada und Berlin. Von ihm und Micha Brumlik erschien soeben: "Juden in Deutschland, Deutschland in den Juden" (Wallstein).
Im Vergleich zur frühen amerikanischen Soziologie widmete sich die deutsche Soziologie kaum den Fragen nach Ethnizität und Nation. Und die Sozialisten wiederum waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, obsessiv internationalistisch orientiert und nicht in der Lage, die Bedeutung ethnonationaler Identitäten zu erkennen. Die deutsche Soziologie war somit völlig unvorbereitet auf die nationale Raserei, die mit Beginn des Ersten Weltkrieges losbrach, und auf den wachsenden Antisemitismus und das Aufkommen des Faschismus danach. Selbst noch Jahrzehnte nach 1945 war sie nicht in der Lage, sich mit Migration und Ethnizität zu beschäftigen: Es fand sich keine intellektuelle Tradition, auf die sie hätte aufbauen können.
Heute kehren kulturalisierte Rasse-Ideen in die Debatte zurück, die Klassenlage jenseits des Kopftuchs wird dabei wieder unter den Teppich gekehrt. Wenig Fortschritt also seit 1910.
Debatte Soziologie: Verdrängte Vielfalt
Vor 100 Jahren fand der erste "Deutsche Soziologentag" statt. Doch statt über Klassenfragen redete die junge Zunft über Rassentheorien.
Etwa 50 Herren - Damen waren offenbar nicht dabei - kamen vor hundert Jahren, am 21. Oktober 1910, in Frankfurt am Main zum "Ersten Deutschen Soziologentag" zusammen. Er sollte helfen, die Agenda der neuen Disziplin auszuloten. Das Ziel war durch Max Weber und dessen programmatische, gegen die "Kathedersozialisten" gewandten Schriften bereits vorgegeben, nämlich einen eher kosmopolitisch orientierten Marxismus von einer national orientierten, bürgerlichen Soziologie fernzuhalten. Oder, in Werner Sombarts späteren Worten: eine "undeutsche", "wurzellose" und "jüdisch beherrschte" Bewegung aus dem neuen Fach auszuschließen.
Worüber aber sollte die Zunft angesichts einer massiv erstarkenden Arbeiterbewegung dann diskutieren? Die Lösung war schnell gefunden: über die damals populäre Rassenhygiene mit ihrem ausdifferenzierten Korpus an eugenischen Theorien und Rassenideologemen. Diese Theorien wurden gefördert durch die neue koloniale Erfahrung mit "inferioren" Völkern, aber auch dem Zusammenbruch der alten Feudaleliten in Deutschland und der Formierung einer vermeintlich chaotischen, moralisch suspekten und ethnokulturell diversen Arbeiterklasse in den expandierenden Städten; auch die deutsche "Entdeckung" des ethnisch heterogenen Amerika spielte eine Rolle.
Die Rassentheorie diente dazu, von der Klassenfrage abzulenken und sie durch die Frage nach dem Volk und dem "Volkskörper" zu ersetzen. Dies wurde durch Sombart spätestens auf dem Zweiten Soziologentag 1912 unverblümt ausgesprochen: "Aber wir wollen doch nicht das große augenblickliche Verdienst der Rassentheorie unterschätzen, dass sie uns von der Alleinherrschaft der materialistischen Geschichtsauffassung befreit, uns endlich wieder einen neuen Gesichtspunkt gegeben hat."
Gesellschaft als Organismus
Die heftigen Debatten auf den ersten beiden Soziologentagen in den Jahren 1910 und 1912 sind ein gutes Indiz dafür, wo die sich herausbildende deutsche Soziologie damals stand. Einer der führenden Rassenbiologen seiner Zeit, Alfred Ploetz, durfte einen langen Vortrag präsentierten: Menschliche Gesellschaften sollten als "ganzheitliche Organismen" gesehen werden, so seine These, den Bienen- und Ameisenkolonien nicht unähnlich. Tönnies fasste die "gegensätzliche Tendenz" dieses "Gesellschaftskörpers" bündig zusammen: "Einmal die Tendenz, der Gesellschaft zu helfen und also die Schwachen zu unterstützen; andrerseits aber das Interesse der Rasse, der biologischen Dauereinheit, sich zu erhalten." Letzteres Interesse fordere die Ausmerzung der Schwachen, während die Gesellschaft die Schwachen erhalten wolle.
Dem Vortrag des Rassenbiologen schlug wenig Ablehnung entgegen, von Empörung konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Sympathisanten der Rassenbiologie forderten die Soziologie auf, Phänomene wie Landstreicherei, Betteln, Prostitution, sexuelle Perversion und Jugendkriminalität zu erklären. Umweltbezogene Erklärungen wurden als "mit der Sozialdemokratie verbunden" abqualifiziert.
Flucht in die "Negerfrage"
Erstaunlicherweise fand in dieser Debatte weder der mögliche genetische oder kulturelle Charakter der deutschen Arbeiterklasse Erwähnung, noch kam das Phänomen "des Fremden" oder "des Juden" zur Sprache. In den Augen der Mehrzahl sowohl der versammelten Soziologen als auch der Rassenbiologen schien Deutschland offenbar ethnisch homogen: die Dänen und Friesen im Norden, Belgier und Elsässer im Westen sowie die Immigration von Osteuropäern und Ostjuden wurden ignoriert. Stattdessen wurde die Debatte auf ein sichereres und exotischeres Terrain verschoben: die Vereinigten Staaten und die dortige "Negerfrage". Ploetz meinte, die Schwarzen in den USA würden "ausgeschlossen aufgrund ihrer Inferiorität im geistigen und sittlichen Sinne" - ein Gedanke, den Max Weber verwarf.
Der zweite Soziologentag befasste sich auf Vorschlag von Ferdinand Tönnies mit den "Begriffen von Volk und Nation mit Bezug auf Rasse, Staat und Sprache". Werner Sombart und auch Max Weber hatten erkannt, dass die jüdische Frage dabei ein wichtiges Thema war. Doch diese Frage, ganz zu schweigen von der Frage des Antisemitismus in Deutschland, wurde auf den Soziologentagen vor dem Ersten Weltkrieg praktisch nie thematisiert.
Was macht eine Nation aus?
Bemerkenswert war am zweiten Soziologentag von 1912 vielmehr die klassifikatorische Dürre und Lustlosigkeit der Beiträge. Trotz der virulenten Nationalismen, die zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Europa grassierten, schien sich das Gros der Soziologen vor allem für das Thema Rasse zu interessieren, während die Debatte zu Nation, Ethnos und Rasse eine Idee des Soziologentriumvirats Weber, Tönnies und Sombart gewesen zu sein scheint. Erst auf dem letzten Soziologentag vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1930 und unter den Vorzeichen des ansteigenden Faschismus und Antisemitismus kam wieder ein ethnonationales Thema auf die Tagesordnung: das der "deutschen Stämme" wie der Bayern oder der Sachsen. Dieses Panel aber versank in rassisch-germanischen Diskursen und schloss nichtdeutsche Minoritäten aus.
Michal Bodemann
ist Professor für Soziologie an der University of Toronto, er lebt in Kanada und Berlin. Von ihm und Micha Brumlik erschien soeben: "Juden in Deutschland, Deutschland in den Juden" (Wallstein).
Im Vergleich zur frühen amerikanischen Soziologie widmete sich die deutsche Soziologie kaum den Fragen nach Ethnizität und Nation. Und die Sozialisten wiederum waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, obsessiv internationalistisch orientiert und nicht in der Lage, die Bedeutung ethnonationaler Identitäten zu erkennen. Die deutsche Soziologie war somit völlig unvorbereitet auf die nationale Raserei, die mit Beginn des Ersten Weltkrieges losbrach, und auf den wachsenden Antisemitismus und das Aufkommen des Faschismus danach. Selbst noch Jahrzehnte nach 1945 war sie nicht in der Lage, sich mit Migration und Ethnizität zu beschäftigen: Es fand sich keine intellektuelle Tradition, auf die sie hätte aufbauen können.
Heute kehren kulturalisierte Rasse-Ideen in die Debatte zurück, die Klassenlage jenseits des Kopftuchs wird dabei wieder unter den Teppich gekehrt. Wenig Fortschritt also seit 1910.
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Kommentar von
Michal Bodemann