Debatte Selbstbewusster Islam: Respekt für Verfassungen und Gesetze
Konservative Muslime haben in einer Charta ihr Verständnis von Integration dargelegt. Wichtig ist dabei nicht nur, wozu sie sich bekennen. Sondern auch, wo sie vage bleiben.
W as verstehen konservative Muslime unter Integration in Europa? Diese Frage ist nicht nur für die Politik von Interesse, sie stellt auch die traditionelle islamische Theologie vor eine Herausforderung. Denn wie sich gläubige Muslime in säkularen, christlich geprägten Gesellschaften eingliedern sollen, das ist in der islamischen Geschichte eine vergleichsweise neue Frage, die sich im Zeitalter von Globalisierung und Arbeitsmigration aber besonders aufdrängt.
MONA NAGGAR, geboren 1965, lebt als freie Journalistin und Übersetzerin in Köln. Bis 2007 leitete sie das Islam-Internetportal "quantara.de". Mit Khalid al-Maaly gab sie das "Lexikon arabischer Autoren" heraus (Palmyra Verlag, 2004).
Rund 400 muslimische Organisationen und Verbände aus ganz Europa haben eine gemeinsame Charta vorgelegt, in der sie ihr Selbstverständnis skizzieren. Interessant ist dabei nicht nur, wozu sich die Verfasser bekennen: zur Demokratie, zum Weltfrieden, zum Dialog und zum Pluralismus. Ausdrücklich äußern sie ihren Respekt für die in Europa geltenden Verfassungen und Gesetze. Muslime werden aufgefordert, im politischen Leben eine aktive Rolle zu spielen und gegenüber allen Mitmenschen - ungeachtet von deren Religionszugehörigkeit - gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Jegliche Form von Rassismus wird verurteilt, sogar Umwelt- und Tierschutz finden Beachtung.
Spannender sind jene Stellen, in denen die Charta vage bleibt. So wird zwar Respekt vor den Menschenrechten und vor der Religionsfreiheit des Einzelnen bekundet. Wird aber damit auch toleriert, wenn sich Muslime vom Islam abwenden? In konservativen islamischen Staaten wie Iran, Afghanistan und Saudi-Arabien wird dies als Häresie gewertet und ist offiziell verboten. Die Charta mogelt sich um das Problem mit einer wenig eindeutigen Formulierung herum: Die Religionsfreiheit, und damit auch die freie Wahl des Glaubens, solle "von moralischen Werten und gesetzlichen Bestimmungen" flankiert werden. Welche Werte und Gesetze damit gemeint sind? Die Verfasser bleiben eine Antwort schuldig.
Auch beim Bekenntnis zu den Menschenrechten hätte man sich eindeutigere Aussagen gewünscht. Ist damit jene Idee der Menschenrechte gemeint, die der "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" zugrunde liegt? Oder vielmehr die "Kairoer Erklärung der Menschenrechte", die 1990 von der "Organisation der islamischen Konferenz" (OIC) formuliert wurde und sich auf die Scharia stützt? Sie weicht vom internationalen Verständnis der Menschenrechte ab und schränkt sie in heiklen Punkten wie Glaubensfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und sexuelle Selbstbestimmung ein.
Auch in der Charta bleibt das Bekenntnis zur Gleichheit von Frau und Mann ambivalent. Zwar heißt es, der Islam "rufe zur Gleichheit der Geschlechter" auf, dies aber auf Grundlage einer "harmonischen und sich ergänzenden Beziehung". Dahinter dürfte die Vorstellung von der "natürlichen" Bestimmung von Frau und Mann stehen, die von Gott vorgegeben seien und sich im Leben so wunderbar ergänzen sollen. Diese Idee einer "Gleichheit", die auf unterschiedlichen Geschlechterrollen basiert, zieht sich wie ein roter Faden durch das zeitgenössische orthodoxe islamische Denken.
Unklar bleibt auch, wie sich Muslime verhalten sollen, wenn religiöse Überzeugungen sie in Konflikt mit Gesetzen westlicher Staaten bringen. Ein Beispiel dafür wäre das Kopftuch-Verbot an französischen Schulen, aber auch die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen. Hier wird den Muslimen lediglich geraten, sich an "die zuständigen Stellen" zu wenden, damit diese "ihre Bedürfnisse im Rahmen der allgemeinen Ordnung berücksichtigen". Und wenn sie das nicht tun? Der Selbstjustiz immerhin erteilt die Charta eine klare Absage. Auch der "Dschihad" wird hier, den klassischen islamischen Quellen gemäß, lediglich als "inneres Streben" verstanden, um "Recht und Gerechtigkeit unter den Menschen zu verbreiten".
Die Charta trägt deutlich die Handschrift des "europäischen Fatwa-Rats". Dieser "Fatwa-Rat" wurde vor zehn Jahren ins Leben gerufen und versteht sich als Ansprechpartner für alle Muslime, die ihr Leben in Europa mit dem Islam in Einklang zu bringen versuchen. Er erlässt auf Anfrage Rechtsgutachten, wobei sein Einfluss hauptsächlich auf arabischsprachige Gläubige beschränkt ist. Seinen Vorsitz hält der ägyptische Prediger Jussuf al-Karadawi, der aufgrund seiner Ratgeber-Sendung auf dem Satellitensender al-Dschasira große Popularität genießt, zumindest in der arabischsprachigen Welt. Der Einfluss des "Fatwa-Rats" zeigt sich in vielen Passagen der Charta: etwa beim Begriff der "positiven Integration", der ein aktives Engagement der Muslime in europäischen Gesellschaften meint, ohne dass diese ihre "islamische Identität" aufgeben müssten.
Hinter der Charta wie dem "Fatwa-Rat" steht die "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE). Dabei handelt es sich um einen Dachverband von Moscheegemeinden und Vereinen, überwiegend aus Frankreich und Belgien und mit arabischem Hintergrund, der ideologisch der Muslimbruderschaft nahe steht. In Deutschland gehört diesem Verband nur die kleine "Islamische Gemeinschaft" (IGD) an, der hierzulande rund 600 Moscheevereine angehören.
Den Fatwa-Rat wie die Charta muss man als Versuch orthodoxer Kreise ansehen, ihren Einfluss unter den Muslimen in Europa auszudehnen und sich so nicht zuletzt als Ansprechpartner für europäische Regierungen anzudienen. Dass die Charta von vielen Gemeinden unterstützt wird, die außerhalb der "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE) stehen, zeigt deren wachsende Bedeutung. Ob sich die großen Verbände in Deutschland zu einer Unterschrift unter die Charta bewegen lassen, ist noch offen. Immerhin zählt der Islamrat zu den Unterzeichnern, dessen größtes Mitglied, der türkische "Milli Görüs"-Verband (IGMG), hierzulande immerhin 300 Moscheen unterhält.
Theologisch bietet die Charta wenig Neues. Die Verfasser bewegen sich in den Grenzen des klassischen islamischen Rechts und versuchen lediglich, dessen Flexibilität auszuschöpfen. Aller Kritik zum Trotz, steht die Charta aber auch für eine klare Abgrenzung konservativer Muslime gegenüber radikalen islamistischen Kräften. Sie bildet damit ein Antidot gegen all jene, die es für gottgefällig halten, sich in Parallelgesellschaften zurückzuziehen; noch mehr aber gegen all jene, die die Welt nach ihrem mittelalterlichen Weltbild in ein "Haus des Krieges" und ein "Haus des Islam" aufteilen und nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden.
Mit der Charta bekennen sich die Unterzeichner zu einem selbstbewussten Islam, der sich den säkularen Gesellschaften als europäischer Heimat der Muslime verpflichtet fühlt. Deutlich spricht daraus die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft und die Bereitschaft, für die eigenen Rechte einzutreten. Damit bietet dieses Papier eine gute Grundlage für eine hoffentlich sachliche Auseinandersetzung, an der sich auch säkulare Muslime beteiligen sollten.
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