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Debatte Ressentiments gegen PolenDie Erinnerungslücke

Kommentar von Christian Semler

Obwohl vergessen, hegten in der Weimarer Republik fast alle Parteien Ressentiments gegen Polen. Das war für den Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen von erheblicher Bedeutung.

K ein Zweifel, die in russischen Medien unlängst vorgetragene These von der Mitschuld Polens am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überschattet die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen in Gdansk (Danzig). Gemessen an der Schärfe dieses publizistischen Angriffs scheint das geschichtspolitische Feld der polnisch-deutschen Beziehungen vollständig aufgeklärt. Dies betrifft sowohl den Überfall selbst als auch den unmittelbar auf die Besetzung Polens folgenden Terror gegen die polnisch-jüdische und allgemein gegen die polnische Bevölkerung. Dessen Ausmaß war in der Bundesrepublik ja lange nicht hinreichend zur Kenntnis genommen worden.

DER AUTOR

Christian Semler war in einem anderen Leben Jurist. Seit 1989 ist er Mitarbeiter der taz. Er befasst sich unter anderem mit Fragen der internationalen Sicherheitspolitik.

Und obgleich viele Defizite in der Erinnerungskultur inzwischen ausgeräumt sind: Ein Thema wird in der deutschen Öffentlichkeit noch immer kaum angeschnitten - dabei ist es für den Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen von erheblicher Bedeutung. Die Rede ist von der Vorgeschichte. Natürlich haben die Bundesregierung und die Kanzlerin den Vernichtungskrieg gegen Polen verlässlich in den Zusammenhang der nazistischen Expansions- und Versklavungspolitik gestellt, der erst Polen, später die Sowjetunion zum Opfer fielen. Außen vor bleibt jedoch, dass die antipolnische Politik seit Wiederbegründung des polnischen Staates zum festen Bestandteil aller deutschen Parteien mit Ausnahme der Kommunisten gehörte.

Dies trifft besonders auf die "Verständigungspolitik" des Reichskanzlers und Außenministers Gustav Stresemanns in den Zwanzigerjahren zu. Er wurde zu einer der Ikonen der Geschichtspolitik in der "alten" Bonner Republik. Seine Bemühungen um eine Verständigung mit Frankreich, die im Locarno-Vertrag gipfelten, wurden in der Bundesrepublik als vorbildlich für die Aussöhnung mit Frankreich und für die (west)europäische Einigung angesehen. Dabei wurde ausgeblendet, dass es gerade der Sinn der Grenzanerkennung und Kooperation im Westen war, die Hand für eine Revision der deutsch-polnischen Grenze freizubekommen. Es war Stresemanns Ziel, durch eine Kombination von ökonomischem und politischem Druck und mit Hilfe der Westmächte eine Revision der Ostgrenze zu erreichen - wenn möglich ohne Krieg.

Die Ablehnung dieser Grenze teilten die demokratischen Parteien der Weimarer Koalition - also die Sozialdemokraten, die Zentrumspartei und die Deutsche Demokratische Partei - mit den rechten und rechtsradikalen Parteien. Selbst dort, wo seitens demokratischer und linker Intellektueller in den Zwanzigerjahren auf eine gesellschaftliche Verständigung hingearbeitet wurde, geschah dies unter Ausklammerung der Grenz- und Territorialfragen. Martin Broszat, der zur deutschen Polenpolitik eine wegweisende Studie verfasst hat, schrieb, dass sich die SPD nach 1918 im Bereich der Polenpolitik "von ihren internationalistischen Positionen" verabschiedet habe.

Gewiss, die demokratischen Parteien der Weimarer Koalition beteiligten sich nicht an der Verbreitung rassistischer Stereotypen gegenüber "den Polen". Aber die Grenzrevision im Osten gehörte zur Staatsraison der SPD. Wie der Botschafter Deutschlands in Warschau, Ulrich Rauschen, einer der wenigen Sozialdemokraten im Auswärtigen Amt, es ausdrückte: "Keine Ressentiments, aber kühlste Interessenpolitik." So wurde unter der von dem Sozialdemokraten Hermann Müller geführten Reichsregierung kein Versuch unternommen, in der Frage der Behandlung der Minderheiten, insbesondere der deutschen Minderheit im polnischen Staatsverband, zu Kompromissen und zu vernünftigen bilateralen Lösungen zu kommen. Die Tatsache, dass auch von polnischer Seite eine krass nationalistische Minderheitenpolitik betrieben wurde, quasi als Antwort auf die deutsche Germanisierungspolitik der Polen im Preußen vor 1918, kann für diese Weigerung der Weimarer Demokraten keine Rechtfertigung liefern.

In Wirklichkeit beruhte diese "kühlste" deutsche Interessenpolitik auf dem grundlegenden Ressentiment, dass die polnische Staatsgründung im Grunde ein Produkt des "Diktatfriedens" von Versailles wäre, mithin ein Produkt der Westmächte, nur von vorübergehender Dauer, ein "Saisonstaat". Nicht nur bei den Rechtsradikalen wurde die polnische Bevölkerung als unmündig angesehen. Ihr war nach deutscher Auffassung der Weg vorbestimmt, unter deutscher Vormundschaft zum Licht der Zivilisation aufzusteigen. Dass Polen dieses paternalistische Angebot verschmähte, verstärkte noch den Zorn auf die Undankbaren.

Auch in der deutschen Öffentlichkeit Weimars war kaum eine Stimme zu vernehmen, die sich von der Fixierung aufs eigene Leid befreit hätte. Die "Versailles" auch als Resultat von 150 Jahren polnischen Ringens um die Wiederherstellung seiner Staatlichkeit gesehen hätte. Die bis 1848 so starke Tradition des Bündnisses mit den polnischen Freiheitskämpfern im Milieu der deutschen Demokraten war vom deutschen Opfermythos vollständig aufgesogen.

Paradoxerweise war es Hitler, der in den ersten Jahren seiner Herrschaft eine vorübergehende Normalisierung zwischen Nazi-Deutschland und dem autoritär regierten Polen herbeiführte. Dass Hitler aber Polen als einen möglichen Bündnispartner im künftigen Krieg gegen die Sowjetunion angesehen und deshalb zu territorialen Kompromissen bereit gewesen wäre, dafür gibt es keine Beweisstücke.

Kann es angesichts dieser Vorgeschichte verwundern, dass für die polnischen Regierungen nach 1945 die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze auch dann ein angstbesetztes Terrain war, wenn die Chancen einer Grenzrevision auf Grund des internationalen Kräfteverhältnisses gleich null waren? Und gehört die jahrzehntelange Weigerung der im Bundestag vertretenen Parteien, diese Anerkennung auszusprechen, nicht auch zur "Vorgeschichte" der Gedenkfeier von 2009? Tempi passati.

Aber an sie zu erinnern, könnte allzu großer Selbstzufriedenheit und Selbstlob seitens unserer Regierungsparteien vorbeugen. Sehen sich diese doch stets in der Tradition der Weimarer demokratischen Parteien.

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4 Kommentare

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  • T
    Tubus

    Es ist Putins Verdienst das Versailler Friedensdiktat, dem Polen seine Existenz in ungerechtfertigten Grenzen verdankte, als eine wesentliche Ursache für den Aufstieg Hitlers und den 2. Weltkrieg angesprochen zu haben. Aus deutschem Munde wäre das nur als Rechtfertigungsversuch für spätere deutsche Verbrechen verstanden worden.

  • T
    Thilo

    Ich verstehe nicht ganz, warum die damaligen Forderungen nach einer - friedlichen - Grenzrevision aus heutiger Sicht so schlimm sein sollen. Schliesslich kamen damals auch von Deutschen bewohnte Gebiete ohne Volksabstimmung, bzw im Falle Teilen Oberschlesiens trotz Volksabstimmung fuer Deutschland, zu Polen. Nimmt man noch dazu, dass die deutsche Bevoelkerung, wie der Autor ja wenigstens kurz erwaehnt, grossen Schikanen ausgesetzt war, dann war das doch die naheliegenste Forderung.

     

    In der Tat scheint mir die polnische Politik gegenueber der deutschen Minderheit nach 1919 prinzipiell zu wenig im Fokus der Oeffentlichkeit zu sein. Also, wenn man sich da mal ein bisschen informiert, dann kann man die damalige Stimmung in Deutschland schon verstehen. Was nicht heisst, dass der Versuch eines friedlichen Ausgleichs mit Polen nicht besser gewesen waere. Aber dann gaelte es wiederum zu beleuchten, ob Polen damals denn an einem friedlichen Ausgleich interessiert gewesen waere, oder ob Polen nicht in den 20er und 30er Jahren alles daran gesetzt hat, die verbliebenen Deutschen loszuwerden oder zu polonisieren.

     

    Ist denke nicht, dass es verderblich ist, auch der polnischen Seite Verblendung und Nationalismus vorzuwerfen. Vermutlich wuerde es die Aussoehnung sogar erleichtern, wenn wir anhand der tatsaechlichen Fakten (nicht der Rueckprojektion nach den deutschen Verbrechen 1939-1945) erkennen, dass Deutsche und Polen damals durchaus aehnlich handelten und dachten.

  • G
    gast

    Und das gleiche Spielwiederholt sich jetzt wieder auf der Vertriebenen Ebene. Jetzt wird wieder der Vertriebenen Opfermythos in Deutschland wie ein Ballon aufgepumpt und die Wahrheit unter dem Tisch gekehrt. Frau Merkel schwadroniert von 2 Millionen Toten vertriebenen, niemand erwähnt wie viele von ihnen tatsächlich unschuldig waren, wie viele flohen, wie viele im September mit Glück in den Augen Zugesehen hatten wie die Polnischen Nachbarn gemordet werden. usw.

     

    Früher war der neu entstandene Polnische Staat das Opfer der Deutschen und heute die sog. Vertriebenen.

     

    Die zeit vergeht aber der kühl berechnende Zynismus bleibt tief in den deutschen Köpfen. usw.

  • DP
    Daniel Preissler

    "die Grenzrevision im Osten gehörte zur Staatsraison der SPD"

     

    Das allein ist nicht schlimm! Meines Wissens gibt es keine Hinweise darauf das "die SPD" einen polnischen Staat an sich ablehnte und den real existierenden als saisonal empfand. Es gab allerdings ein m.M.n. verständliches Ungerechtigkeitsempfinden - eben auch bei den (Sozial-)Demokraten - nach der Abtrennung von Gebieten, die mehrheitlich von Deutschen bewohnt waren und sich bei den Abstimmungen auch für den Verbleib bei Deutschland entschieden hatten.

    Herr Semler, ich denke Ihre Meinung ist Ausdruck der Tatsache, dass sich die deutsche Linke immer noch nicht mit ihrem Land versöhnt hat - was angesichts der Tätergeneration der Eltern (oder großen Geschwister) auch verständlich ist. Recht haben Sie deswegen aber nicht. Mann muss nicht anerkennen, dass Regionen jetzt zu einem anderen Land gehören, bloß, weil sie gerade Deutschland abgenommen wurden. Dort lebten (in einer Minderheit der 1918 an Polen abgetretenen Gebiete, ich weiß!) mehrheitlich Deutsche, sie wollten zu Deutschland gehören, also bitte, versuchen sie mal realistisch zu denken!

    Und: auch nach 1945 sind aus den neu-polnischen Gebieten Einwohner Preußens (und nicht etwa SA-Leute aus München) vertrieben worden, das bis 1933 SPD-regiert war und den Überfall auf Polen oder auch den Holocaust eben NICHT zu verantworten hat.

    Ich glaube nicht wirklich, dass Ihre Generation von Linken ihr (schwaches) Antideutschtum noch ablegen wird. Mit Realismus hat das aber nur in Ausnahmefällen zu tun.

    Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (und nicht der Staaten!) macht nur Sinn, wenn es allgemeine Gültigkeit hat - und nicht ideologisch benutzt wird.

    Pardon, ansonsten finde ich Ihre Beiträge sehr gehaltvoll und unterhaltsam.

    Freundliche Grüße,

    D. Preissler