Debatte Rechtsextreme Jugend: Verfassungshüter öffnen ein Auge
Rund 100.000 Jugendliche sind Mitglied in rechtsextremen Organisationen oder Kameradschaften. Die bisherigen Annahmen der Kölner Behörde sind obsolet
D eutschland hat ein Problem. Die organisierte Szene der Rechtsextremisten ist um ein vielfaches stärker als bisher angenommen. Die am Dienstag vom Bundesinnenminister Schäube und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) vorgestellte Studie stellt alles, was wir bislang über den organisierten Rechtsextremismus zu wissen glaubten, in Frage.
Schäuble verschlug es denn auch vor Schreck fast die Sprache. Denn das Zahlenwerk des ihm unterstehenden Verfassungschutzes ist so etwas wie die Bibel praktizierter Politik in Deutschland. Die Bereitschaft, in die Prävention und Bekämpfung des Rechtsextremismus zu investieren, hängt von der Lagebeurteilung der Kölner Behörde ab. In anderen Worten: Es gibt eine Korrelation zwischen den gezählten organisierten Rechtsextremisten und den Mitteln zur Stützung demokratischer Jugendkulturen. Und da hat der politische Elan in den letzten Jahren doch spürbar nachgelassen. In vielen Brennpunktgebieten mussten seit 2007 bewährte zivilgesellschaftliche Initiativen ihre Arbeit mangels öffentlicher Unterstützung einschränken oder gar völlig einstellen.
Zur Erinnerung: Bislang ging das Bundesamt für Verfassungsschutz von rund 31.000 organisierten Rechtsextremisten in Deutschland aus: Parteimitglieder von NPD, DVU und sonstiger rechtsextremer Organisationen und nicht-organisierter Subkulturen. "Rechtsextremismuspotential" nennt die Behörde das.
Ernsthafte Zweifel an den bisherigen Angaben der Verfassungsschützer kamen auf, als Christian Pfeiffer, Leiter des KFN am Dienstag verkündete: 3,8 Prozent der 15-jährigen Deutschen sind Mitglied einer "rechten Gruppe oder Kameradschaft". Das wären rund 23.000 Teenager, wenn man, wie Pfeiffer die Jugendlichen mit so genannten Migrationshintergrund nicht hinzuzählt. Da nicht davon auszugehen ist, dass sich die 16-, 17- und 18-jährigen Schüler bezüglich ihrer Einstellungen und ihres Organisationsverhalten völlig von den 15-Jährigen unterscheiden, ist die Lage reichlich düster: Damit wären rund 100.000 Jugendliche Mitglied in einer rechtsextremen Organisation.
Auf Nachfrage der taz hat Christian Pfeiffer klargestellt: "Der Verfassungsschutz, mit dessen Zahlen unsere ja jetzt verglichen werden, hat kein vollständiges Bild. Er hat nur seine Hellfelddaten (belegbare Daten, Anm. d. Red.) von erkannten Gruppierungen." Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich beruht auch das Zahlenwerk der Verfassungsschützer zum Teil auf Schätzungen. Und diese sind offensichtlich viel zu niedrig angesetzt. So bleibt nur der Schluss: Der Verfassungsschutz wiegt die Bürger seit Jahren in falscher Sicherheit.
Mit der nun notwendigen Korrektur der Lageeinschätzung im Bereich des Rechtsextremismus steht auch das Selbstbild der Deutschen zur Disposition. In den letzten Jahren überwog ja der Glaube, die innere Sicherheit sei weniger von Rechtsextremisten bedroht als von überdrehten muslimischen Jugendlichen und gewaltbereiten Islamisten.
Inzwischen würdigte eine Sprecherin des Verfassungsschutzes gegenüber Spiegel Online die KFN-Studie als "wichtigen Beitrag zur Einschätzung eines möglichen Nachwuchspotentials für rechtsextremistische Gruppierungen und Organisationen" in Deutschland. Warum der Verfassungsschutz das Rechtsextremismuspotential in der Vergangenheit nicht selbst realistischer einschätzen konnte, erklärt sie mit dem Bundesverfassungsschutzgesetz: Es lasse die Speicherung von Daten Minderjähriger unter 16 Jahren nicht zu; die eigenen Zahlen seien mit denen des Forschungsprojektes also nicht vergleichbar.
Was nachvollziehbar erscheint, ist nicht plausibel. Denn die Daten der 16-, 17-, 18-Jährigen durfte der Verfassungsschutz auch in der Vergangenheit erfassen. Ein realistisches Bild der Gefährdungslage hat er aber trotzdem nicht gezeichnet.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat nun gegenüber der Presse erste Konsequenzen angekündigt: Es werde die Befragungsergebnisse intensiv auswerten und erwarte sich eine "weitere begriffliche und statistische Aufschlüsselung". Das ist zu begrüßen. Denn es macht einen großen Unterschied, ob in der Republik 31.000 Rechtsextremisten organisiert sind oder ein Vielfaches davon. Dann nämlich haben wir es nicht mehr mit einer überschaubaren Ansammlung von Spinnern zu tun, sondern mit einem tiefgreifendem gesellschaftlichen Problem.
Mit den neuen Erkenntnissen werden sich für die Politik wichtige Koordinaten ändern müssen. Wie sehr lässt sich etwa miteinem Blick auf die Arbeitsmarktsituation illustrieren: Wenn anstatt drei Millionen Menschen neun Millionen erwerbslos sind, dann muss nicht nur das Budget der Bundesagentur für Arbeit aufgestockt werden, sondern es gilt, völlig neue Strategien für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu entwerfen.
Mit der Offenlegung der Malaise im Feld der rechten (Jugend)Kultur ist klar: Die Investitionen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus müssen neu vermessen und der Lage angepasst werden. Denn für die Bekämpfung Hunderttausender organisierter Rechtsextremisten kann an Anstrengung nicht reichen, was für 31.000 genug sein sollte. Zumal Ideologien der Ungleichwertigkeit in Zeiten der ökonomischen und sozialen Krisen an Attraktivität gewinnen werden und rechtsextreme Organisationen mit weiterem Zulauf rechnen können.
Wichtig ist nun, dass die anstehenden Korrekturen nicht nur in eine weitere Aufrüstung der Verfassungsschutzbehörde und den Polizeien münden. Das wäre zu billig und der Verdacht läge all zu nahe, der Wirbel um die Pfeiffer-Studie und das Erschrecken des Innenministers ob der präsentierten Zahlen sei nichts weiter als ein Spiel über Bande. Also: ein willkommenes Argument für den Ausbau des Sicherheitsstaats à la Wolfgang Schäuble.
Repression ohne Prävention ist nicht viel wert. Ohne Stärkung der Zivilgesellschaft und demokratischer Jugendkulturen wird es nicht gehen. Ohne eine Politik, die den Menschen ermöglicht, ihr Leben selbst bestimmt zu gestalten, bleibt alles Makulatur. An der Bekämpfung des Rechtsextremismus haben viele mitzuwirken - in den Schulen, den Medien, in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, im Bundestag und in den Kommunen. Von ihnen allen hängt es ab, ob den Rechtsextremisten auf Dauer der Boden entzogen wird.
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