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Debatte Neue BürgerlichkeitBürgerliche Zombies

Kommentar von S. Reinecke und C. Semler

Die Grünen haben die Bürgerlichkeit entdeckt. Doch ist sie wirklich neu? Oder treibt da eine auferstandene alte Bildungsbürgerlichkeit ihr Unwesen?

Können die Grünen ihre eigene Interessenlage transzendieren? Bild: prokop / photocase.com

D ie Grünen haben eine neues Zauberwort gefunden: „bürgerlich“. Ist „bürgerlich“ ein unverfängliches Wort? Meint es den Abschied von realitätsuntüchtigen Flausen, eine Orientierung am Gemeinwohl? Oder ein Anschmiegen an die selbst ernannten bürgerlichen Parteien Union und FDP?

Das Wort „bürgerlich“ schillert. Es hat im Deutschen mindestens zwei Bedeutungen. Es kann den Staatsbürger meinen, also in einem egalitären Sinne bedeuten, dass sich die Grünen als Partei aller verstehen und stets das Gemeinwohl im Sinn haben. Allerdings ist „bürgerlich“ auch eine Klassenbezeichnung und wäre somit eine Geste der Distinktion, die die Grünen als Partei einer Gruppe inszeniert, die sich über einen bestimmten Habitus definiert. Die Grünen werden von gut verdienenden Beamten und Selbstständigen gewählt, Niedrigverdiener gibt es in der Partei kaum. Nur die FDP ist sozial so exklusiv wie die Grünen.

Bei den Grünen nimmt die „neue Bürgerlichkeit“ eine seltsam changierende Gestalt an. Laut Cem Özdemir sind die Grünen konservativ, aber nicht im überkommenen Sinn. Andererseits wollen die Grünen auch links sein, wenngleich auch keine traditionelle Weltanschauungspartei. Die Grünen nähern sich mit ihrer Wertschätzung der Familie kirchlichen Positionen an, sind aber andererseits entschieden antikirchlich, was Abtreibungen und die Sexualmoral anlangt. Diese programmatischen Äußerungen sind gerade in ihrer Widersprüchlichkeit Ausdruck des postmaterialistisch-alternativen Milieus.

DIE AUTOREN

Stefan Reinecke ist Autor der taz und beschäftigt sich vor allem mit Partei- und Geschichtspolitik. Er wohnt in Berlin-Kreuzberg, das sich derzeit rasant verbürgerlicht.

Christian Semler ist seit 1989 bei der taz. Zuletzt schrieb er über Menschenrechte und die Kritik an China.

Was ist also neu an der „neuen Bürgerlichkeit“? In einer längst untergegangenen Welt firmierten Teile der akademisch gebildeten kleinbürgerlichen Schichten unter dem selbst gewählten Begriff des „Bildungsbürgertums“. Politisch abstinent, kompensierten sie ihre Machtlosigkeit durch den Anspruch, Bildungselite zu sein. Sie hatten Angst vor der Anonymität des modernen Kapitalismus und verachteten dessen Protagonisten. Gleichzeitig verabscheuten sie die „Plebejer“ und klammerten sich an ihre prekäre gesellschaftliche Stellung.

Das Unwesen des alten Bildungsbürgertums

Manchmal hat man den Eindruck, dass in der „neuen Bürgerlichkeit“ das alte Bildungsbürgertum gleich Untoten sein Unwesen treibt. Es gibt kein Revival privater Dichterlesungen, wo Jünglinge an den Lippen verehrter Meister hängen. Dennoch ist die Rückbesinnung auf die angeblichen Tugenden des Bildungsbürgertums wie eben die Wertschätzung von Bildung im weiten Sinn, von Höflichkeit und Anstand wichtig für das Selbstverständnis des grün-alternativen Milieus.

Nicht als starre Tugendlehre, sondern eher im Sinn eines Werkzeugkastens, aus dem man sich nach Bedarf bedient. Für das grün-alternative Milieu steht Geborgenheit vor experimenteller Lebensführung. Es ist der ökonomische Druck, die Gefahr des Absturzes in die Unterklasse, die die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen befördert. Hier finden sich reale Anknüpfungspunkte an die Lage des „klassischen“ Bildungsbürgertums.

Neu an der „neuen Bürgerlichkeit“ ist, dass die Konzentration auf Familie und Freundeskreis nicht gleichbedeutend ist mit dem Rückzug ins Private. Offenheit gegenüber der Welt und ihren ungelösten Problemen gehört zur Grundausstattung. Insofern gibt es einen universalistischen Grundzug im Denken. Neu ist auch das politische Selbstverständnis als Bürger. In ihm steckt der Anspruch, verantwortungsvoll dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein.

Vorbild ist der „Citoyen“ der neuzeitlichen demokratischen Revolutionen. Wir bewegen uns hier im Bereich hoher Normativität. Aber auch der Citoyen von heute ist in die Lebenswirklichkeit verwickelt. Als Angehöriger des grün-alternativen Milieus teilt er die Interessen und Befürchtungen seiner Schicht, er ist bürger-lich.

Distanz zum Unten

Einiges spricht dafür, dass im neubürgerlichen Selbstverständnis der Grünen dieser Subtext stark mitschwingt. Als vor zehn Jahren in den Feuilletons und Soziologieseminaren das Neubürgerliche entdeckt wurde, ging dies nicht zufällig mit der Debatte über die Unterschicht einher. Die Hartz-IV-Klientel, so das Bild, zeigte sich resistent gegen alle pädagogischen Aufforderungen, sich aus dem Fernsehsessel zu erheben und Aufstiegswillen zu demonstrieren.

Der leicht angeekelte Blick des Neobürgertums auf das RTL2 -Publikum war auch ein Abwehrreflex: die Selbstversicherung einer verunsicherten Mittelschicht, die ahnt, dass es auf der Rutsche Richtung Hartz IV ganz schnell gehen kann. Die grüne Bürgerlichkeit meint Werte und Gemeinwohl. Doch dabei schwingt etwas anderes mit: der Wunsch, Distanz zum sozialen Unten zu markieren.

Die Frage ist, ob die Grünen in der Lage sind, über ihre eigenen Schichteninteressen hinaus für die Interessen der „Unterklasse“ einzutreten. Kann die Partei ihre eigene Interessenlage transzendieren? „Ideen“, schrieb Karl Marx, „blamieren sich stets vor Interessen“. Aber was, wenn mittelständische Interessengruppen so stark von der universalistischen Sendung ihrer Politik ausgehen, dass sie sich über die schichtenmäßige Begrenzung ihres politischen Horizonts wenigstens zeitweilig überheben? Das wäre eine produktive Selbsttäuschung, die sehr starke Überzeugungen voraussetzt.

Die Grünen treten mit einem moderaten Umverteilungsprogramm an: Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent heben und eine zeitlich begrenzte Vermögensabgabe für sehr Reiche einführen; dafür soll Hartz IV auf 420 Euro steigen. Diese Forderungen belasten zielgenau die eigene Klientel: die obere Mittelschicht. Werden die Grünen an der Regierung dem ökoorientierten Hochschullehrer und der grünen Rechtsanwältin wirklich ein paar tausend Euro im Jahr abknöpfen? Dies wird die Probe aufs Exempel, was die Grünen mit „Bürgerlichkeit“ meinen: soziale Abgrenzung nach unten oder Gemeinwohlorientierung.

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11 Kommentare

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  • F
    Falmine

    Die Grünen sind ja gar nicht die Bürger/innen, als die sie sich selbst gern apostrophieren. Genau genommen zeigt sich bei näherem Hinsehen eine kleinkarierte, bigotte Spießbürgerlichkeit. Deshalb erhalten sie bei Wahlen auch nur 12% nund nicht 35%.

  • JT
    Jens Theo Müller

    Leserbrief zu „Die Sehnsucht, gut zu sein“

    Danke für den sehr wohlwollend ausgewogenen Kommentar zur neuen Bürgerlichkeit bei den Grünen. Insbesondere auch für den Ansatz, den Citoyen ins Spiel zu bringen, was bei meinen Diskussionen in meiner grünen Partei mehr oder weniger auf Unverständnis stieß. Die weitaus meisten Mitglieder empfinden Bürger und Bürgertum als deutlich positiv besetzt: „Dafür ist doch schon der Begriff Bürgerinitiative ein Beweis“. Also, es ist durchaus nicht entschieden, ob bei den Grünen das Pendel in Richtung Bürgerlichkeit oder Citoyen ausschlägt. Eine kritische Anmerkung dazu. Semler und Reinicke schreiben: Die grüne Bürgerlichkeit meint Werte und Gemeinwohl, denn es ist „die Selbstversicherung einer verunsicherten Mittelschicht, die ahnt, dass es auf der Rutsche Richtung Hartz IV ganz schnell gehen kann“. Eben das trifft bei den Grünen nicht zu. Diese Verunsicherung gibt es bei den Grünen ganz und gar nicht. Dazu ist die aktive Partei viel zu sehr von sozial abgesicherten Beamten, Staatsdienern und hauptberuflichen, aufstiegsorientierten Politikern durchsetzt, die absolut keinen Grund zum sozialen Pessimismus haben. Es stört sie weder die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49% noch der Anstieg des Hart IV Satzes. Weil es sie nicht betrifft. Die Interessenlage, die ja für das grüne Bürgerklientel wie auch für andere soziale Gruppen ausschlaggebend ist, tendiert deutlich in Richtung Staat und Werte und da bahnt sich der Weg an, den auch die SPD gegangen ist, der Weg, unseren Staat, als prinzipiell positiv zu verinnerlichen und das Staatshandeln als wichtigsten Pfeiler der Politik zu betrachten. Ich will niemandem bei den Grünen das soziale Gefühl abstreiten, aber die sozialen Programmatiken, die sich die Grünen jetzt vor der Wahl verpassen, sehe ich lediglich als wahltaktische Konkurrenzangebote zur SPD. Statt dem abhanden gekommenen Programmpunkt „Atomkraft, nein danke“ jetzt „Sozial, ja bitte“.

  • M
    MeinName

    "Die Frage ist, ob die Grünen in der Lage sind, über ihre eigenen Schichteninteressen hinaus für die Interessen der „Unterklasse“ einzutreten."

     

    Nein, die Frage ist vielmehr ob sie das überhaupt wollen und die haben sie im Grunde bereits eindeutig durch demonstratives Desinteresse beantwortet.

     

    Eine (beabsichtigte) Erhöhung des ALG II-Satzes auf 420€ bei gleichzeitiger Beibehaltung des dazugehörigen staatlichen Disziplinierungssystems mag ja für Grüne (und die taz) bereits als heroischer Kampf für die Plebs durchgehen, mit linker Politik im Interesse der Deklassierten hat das trotzdem wenig zu tun. Das Perfide an den Hartz-Reformen ist eben nicht bloß der Regelsatz, sondern vielmehr die dahinter stehende Geisteshaltung, nach der Leistungsempfänger Menschen zweiter Klasse sind, die so lange gemaßregelt werden müssen, bis sie gezwungen sind auch den allerletzten Drecksjob zu jeder Bedingung anzunehmen. Und damit haben die Grünen überhaupt kein Problem, stattdessen fühlen diese sich bei der Forderung nach höheren Almosen schon wie die Speerspitze des Humanismus. Bezeichnend.

  • VB
    Volker Birk

    Marc-Uwe Kling hat das "Bürgerliche" der Grünen treffend auf den Punkt gebracht:

     

    Früher da gabs noch keine grün-gelbe Mitte

    Da verteilte Professor Fischer noch persönlich Tritte

    Doch die Blumenkinder, wer konnte das ahnen

    Gingen den Weg aller Bananen

    Heute grün und morgen gelb und übermorgen schwarz

    Ein Castor fährt nach Kosovo, am Steuer Peter Hartz

     

    Spring auf, spring auf, auf den Zug der Opportunisten

    Spring auf, spring auf, unsere Ideale packen wir in Kisten

    Verteigern die dann höchstbietend bei ebay an den letzten Trend

    Spring auf, spring auf, auf den Zug der Opportunisten

    Unsere Fahne hängen wir in den Wind, weil wir so ökologisch sind

    Spring auf, spring auf, spring auf, spring auf

  • S
    Sinja

    Herrjeh ... das Wort "bürgerlich" erlebte in den 80er Jahren eine Vielzahl von historischen Seminaren, Ergebnis: schwer fassbar. Es kann also alles und nichts bedeuten und genauso sind die Grünen eben auch.

     

    Die Grünen sind eine Partei, die den Krieg beschloss, aber "ein Stück weit" friedlich sein möchte, eine Partei, die an sichtbarer Vergreisung leidet, aber eben zusammen ins Aötenheim einziehen möchte und eine Partei, die seit geraumer Zeit keinerlei Ideen zu bieten hat, nachdem die romantische Phase längst vorüber ist.

     

    Man wollte einmal eine junge, jugendliche, Bewegung des Friedens sein - draus geworden ist Oma Roth mit ihrem Piccolo-Kreis (prösterchen!) beim Edel-Italiener.

  • PM
    Peter Meisel

    Warum wird irrational der Bürger diskreditiert? Alle reden von Demokratie in der Republik. Das ist eben die res publika und die gibt es nur mit Bürger-Beteiligung! Unser Staat, die Bundes-Republik, hat ihr Selbstverständnis ausschließlich durch den Bürger.

    Und wir werden täglich besser: vom Wut-Bürger, über Mut-Bürger zum Profi-Bürger. Das ist ein Studienfach an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe bei Peter Sloterdijk. Die noch regierende Regierung zählt sogar die freiwillige Mitarbeit, das "Ehrenamt" durch willige Bürger, die den Ernst der Lage an kritischen Stellen unbezahlt lösen, zu ihren Leistungen.

    Hier wird der Bürger zu freiwilligen Mitarbeitern im Dienst des "Staates" wie der Kunde bei IKEA.

    Ich bin froh über bürgerliches Denken und Handeln.

    Peter Meisel, ein Souverän und bürgerlich Nachtwanderer meiner Gemeinde.

  • E
    eksom

    Die Grünen möchten nur die "innovativen Bürgerlichen" mit Verstand, Vernunft und Weitsicht. All die anderen erzkonservativen und naiven "Scheinbürgerlichen" können ruhig bei der CDU-CSU, FDP und der SPD bleiben. Denn, diese innovativen Bürgerlichen mit Verstand und Vernunft haben es verstanden, dass Ihre Zukunft auf dieser globalen Welt nur noch durch Innovationen und Erneuerungen in allen Ebenen der Wirtschaft- und der Gesellschaft und auch der Umwelt für vielleicht noch 20 Jahre einigermaßen gesichert werden kann! Danach ist "Schluss mit Lustig". Die Demographie wird dann Ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Abgang aller leisten.

  • J
    Jan

    Mein Bett wird, Dein Friedhof sein!

    Dies ist doch eine ökologische Liebeserklärung, und wirklich sehr bürgerlich.

    Gruß aus dem nachbarschaftlichem "Winter-Notprogramm"

    Jan-Peter

     

    ps.: Europa hat uns alle um den Schlaf gebrac ht und es bring Bürgerlichkeit nicht viel,bei dem Zustnd der Nation ist Grün lleine sinnlos Jamaica is vielleicht noch ne Chance.

     

    Euer

    Jack Sparrow

  • K
    Kurt

    Ausgemachter Blödsinn, liebe taz-Redaktion.

     

    Keine Begründungen für die hier vorgebrachten Thesen, nur eine Angstamche vor schwarz-grün. Geht und wählt die Linke, dann steckt Deutschland bald in der gleichen Schuldenproblematik wie Griechen, Spanier, usw. Ich denke, Grün denkt wohl an die Leute unten in der sozialen Schicht. Also leieb Redaktion, ein Argument braucht auch eine Begründung und nicht nur leere Thesen.

  • G
    Göhrtritt

    Das jetzt umgarnte Klientel war einmal der Buhmann der 68er. Nun in den Beamtensesseln und auf gut dotierten Stellen angekommen möchte man sich doch von der "Unterschicht" ein wenig abgrenzen. Das ist nicht erst seit heute in beliebten Wohngegenden zu erleben.

    Gern würde ich die Analyse von Jutta Ditfurth dazu hören. Alle Versprechungen zur "neuen sozialen Wärme" sind in einer eventuellen Koalition, gleich welcher Konstellation, dann mit einem Mal "nicht mehr durchsetzbar". Man denke nur an die Mehrwertsteuerverhandlungen der großen Koalition!

  • AB
    Alex Burger

    Die Analyse finde ich treffend.Besonders freut es mich, dass die Autoren der Versuchung widerstanden haben, das Thema plakativ zu bearbeiten. In einem wichtigen Punkt wird m.E. aber zu kurzatmig argumentiert: Die Nagelprobe auf den Gemeinsinn erfolgt nicht bei der Frage, wie die Transferleistungen ausgestaltet werden, sondern entscheidet sich bei der Gestaltung des Zugangs. Konkret: Werden die Bildungssysteme so ausgestaltet, dass eine weniger privilegierte Herkunft kein Hindernis für den Hochschulzugang und den Hochschulabschluss ist?