Debatte Moderner Sozialismus: Demokratische Revolution
Im 60. Jahr des Grundgesetzes ist es Zeit für eine moderne und konkrete Vision einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Ein Glücksentwurf.
Nach Lenins "Staat und Revolution" haben Leninisten ein wirres Bild vom Staat verbreitet. Eigentlich sollte er absterben, tatsächlich wuchs er zum Monstrum. Gegen Paul Levi und Rosa Luxemburg stimmten Leninisten, fixiert auf schnelle Rätemacht, gegen die Teilnahme an der Nationalversammlung. Gegen Heinrich Brandler und August Thalheimer setzten sie auf Sowjetdeutschland statt auf einen deutschen Weg zur Wirtschaftsdemokratie und gegen Wolfgang Abendroth und Ernst Bloch auf eine alles beherrschende Partei statt auf Gewaltenteilung.
Doch sei daran erinnert, dass bislang alle Sozialismen direkt aus Krieg/Bürgerkrieg gebaut waren, deren Verrohung auch vor Kriegsgegnern nicht haltmacht. Brecht forderte Nachsicht: "Auch der Haß gegen die Niedrigkeit /Verzerrt die Züge." Ist diese Nachsicht von uns "Nachgeborenen" zu versagen? Den überfallenen Russen? Den Angehörigen der 20 Millionen sowjetischen Opfer? Dem Buchenwald-Häftling? Wenn jene sich gegenüber SS-Leuten und deren Financiers schwertaten mit der Unschuldsvermutung, dem Kern zivilisierter Rechtssprechung? Oder mit der Gewaltenteilung? Antikommunistische Geschichtsbetrachtung zerschneidet Zusammenhänge, echauffiert sich über "Mauer, Stasi-Terror, Zwangsvereinigung" der Kriegssozialisten - und verschweigt den Kapitalterror, der sie zuvor prägte.
Nun existiert hier seit 60 Jahren das Grundgesetz als erkämpfter "Klassenkompromiss" (Abendroth) und eine Linke, die von physischer Liquidierung eher nicht bedroht ist. Sicher: Berufsverbote, Überwachung, 200 rassistische Morde, die legale NPD, Asylrechtsbeschneidung, die Übermacht der Konzernmedien sind Anschläge auf die Demokratie. Aber all dies reicht nicht, uns später mit jener "Nachsicht" zu begegnen, die Brecht für die "Kriegssozialisten" reklamiert.
Bereits Engels sah die Linke im bürgerlichen "Gesetzeszustand gedeihen". Bloch riet, Ängste vor Totalverstaatlichung und das Kleinbürgertum ernst zu nehmen. Ein demokratischer Staat, wenn er heute von oben nach unten umverteilte, braucht für Putschresistenz weniger Repression als aktivierbares Vertrauen. Der armen Sau nämlich, die, bevor sie zu Michael Kohlhaas wird (gegen Hartz IV oder Ähnliches), die Würde des Menschen einklagt, ist es egal, ob das Urteil von einem SED-Parteisekretär oder einem Kapitalagenten manipuliert wurde: Staatsvertrauen braucht unabhängige Rechtssprechung! Die Neoliberalen nahmen unternehmerische Behäbigkeit im Staat und kameralistische Ineffizienz zum Vorwand für ihren Privatisierungsfeldzug. Sie haben die öffentliche Hand nicht reformiert. Sie haben "outgesourct". Mit der Privatisierungskrise reüssieren nun Alternativen wie Beleg- und Genossenschaftsbesitz, Kommunalisierung.
In Bolivien heißt Revolution: Das gesellschaftliche Klima muss in die Verfassung. In Deutschland wäre es umgekehrt: Kein Betrieb darf mehr grundgesetzfreier Raum bleiben! Aber der Rechtsakt der Verstaatlichung braucht auch von links einen Staatsbegriff. Greenpeace, Attac, Amnesty International, Kirche von unten, mehr Gewerkschaften müssen in Aufsichtsorgane von Banken, Stromkonzernen, konversiven Rüstungsbetrieben oder Verkehrsunternehmen. Öffentlich-Rechtliches hat bereits Überlegenheit gegenüber Privatkapitalistischem gezeigt, Beispiel Rundfunk. Sparkassen haben sich als Kreditfels im Finanztsunami erwiesen. Eine echte Reform des Staats - seiner Defizite an Demokratie, Transparenz, unternehmerischer Kreativität - haben bislang aber auch Linke ausgeblendet.
Das alte Revolutionskonzept war um den einen Bruch gebunden: Sturm aufs Winterpalais als Nachfolgemetapher der Bastille. Der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm unterstellte dem Aufstieg der europäischen Bourgeoisie zwei Revolutionierungen: die der Ökonomie in England und die des Staats in Frankreich. Die Leninisten haben aus dem einen großen Bruch ebenfalls zwei Revolutionen gemacht: die der Enteignung bis zum letzten Kleinunternehmen und die der Herrschaft des Politbüros im Staatssystem. Warum aber nicht viele Brüche für die eine Revolution der ökonomischen Basis, die dann die Demokratisierung des Überbaus eröffnet? Sind denn Staatsbürokratie und Eliten heute so demokratiepolitisch unbrauchbar wie 1918 oder 1945?
Der neue freundliche, weil starke Staat braucht eine Aufwertung der parlamentarischen Demokratie, gestützt auf Massenbewegungen, neue Streik- und Mobilisierungsfähigkeit, flankiert von Volksentscheiden. So überwindet er Lobbyistenunwesen und sublime Formen der Kapitalkorruption. Der "Schumpetersche Erfinderunternehmer" blüht doch privat erst auf, wenn die Börsenmacht gebrochen und die Kreditvergabe dem Allgemeinwohl unterstellt ist. Eine demokratische Revolution hebt unternehmerische Talente im Hegelschen Sinn bei sich gut auf und wird zum "unternehmerischen Sozialismus", weil auch unternehmerische Kulturtechniken sozialisiert werden.
Die Überwindung der Machtzentren des Monopolkapitals würde doch Rechtsstaatlichkeit überhaupt erst entfalten. Die Spiegel- bis Bild-Bevormundung jener 40 bis 70 Prozent der Bevölkerung, die gegen Tornados, Rentenklau und Finanzkasino sind, würde nicht durch Medienverbote, sondern durch Pluralität beendet werden. Reichere können dann keine juristischen Privilegien kaufen, aber Ärmere Kapital bekommen für eigene Medien. Wie die Gewerkschaften einst geladen waren, den rheinischen Kapitalismus mitzuprägen, werden Christdemokraten gefragt sein, den zukünftigen Sozialismus christlicher, Liberale ihn freiheitlicher, Grüne ökologischer, Sozialdemokraten langsamer und Linke ihn zügiger zu gestalten.
Sozialismus wird als Glücksentwurf zu verbreiten sein, nicht als Dschungel von Verbotsschildern. Wir haben hier zwar weder Venezuela, Bolivien, Kuba noch China oberlehrerhafte Vorschriften zu machen, ohne selbst Besseres geleistet zu haben. Wir haben auch nicht bisherige Sozialismus-Anläufe zu verdammen oder uns bei der Spiegel-Redaktion zu entschuldigen. Aber die Revolution hier und jetzt wird demokratisch, unternehmerisch und rechtsstaatlich sein. Wenn sie nicht dem Untergang in die Barbarei weichen will.
D. DEHM, W. GEHRCKE, P. SCHÄFER
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