Debatte Lumpenproletariat: Produkt des Sittenverfalls
Marx sprach vom "Lumpenproletariat". Die britische Elite spricht von "Kriminellen", wenn sie die Randalierer in den Städten meint. Beide machen es sich zu einfach.
M an glaubt sich unversehens ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, in die Zeit der Angst vor der "ruchlosen Masse". Für David Cameron sind die Plünderer und Brandschatzer in Englands Großstädten einfach Pöbel. Nach Gründen suchen? Überflüssig. "Das ist", so Cameron, "schlicht und einfach Gewalt, der wir entgegentreten und der wir ein Ende bereiten müssen." Es geht um "pure Kriminalität".
Artikulierter sozialer Protest war bei den Unruhen tatsächlich nicht sichtbar. Die Randalierer gehörten zur Unterschicht, entstammten aber keinem einheitlichen Milieu. Politische Motive sind nicht auffindbar. Vergeblich wird man nach der Spur von Ideen fahnden, die aus dem Umkreis des Anarchismus stammen und zur Umverteilung durch Go-ins in die Konsumpaläste der Reichen oder gar deren Brandschatzung aufrufen.
Zwar war, wie häufig, der Anlass eine Polizeiaktion mit Todesfolge, aber die Randalierer gingen der Polizei förmlich aus dem Weg. Also doch nur "pure Kriminalität"? Der Erklärungsgrund für "pur" beruht auf der Tautologie, wonach die Kriminalität aus der Begehung von Straftaten resultiert.
ist seit 1989 Autor der taz. In frühen Jahren war er kurzfristig Jurist und hatte ein offenes Ohr für kollektive Enteignungsmaßnahmen. Es musste aber politisch zugehen. Heute steht er brav an der Kasse und zahlt.
Um etwas tiefer zu schürfen, entfachen die britischen Konservativen jetzt eine Debatte über den Werteverfall in der Gesellschaft. Und einige der rechten Kritiker gehen sogar so weit, die britische Machtelite anzuklagen, weil sie es versäumt habe, der Bevölkerung ein Vorbild zu sein.
Tatsächlich haben die Engländer gerade in den letzten Wochen mit dem Murdoch-Skandal ein Panorama des Sittenverfalls bei ihren Eliten miterleben können. Aber wie lässt sich außer allgemeinen Jeremiaden über die Herrschaft des Geldes die Kriminalität an der Spitze der Gesellschaft mit der an seiner Basis in Verbindung bringen?
Traditionell werden von der Linken gesellschaftliche Gründe für Krawalle und Gewaltexzesse in Stellung gebracht. In linearer Ableitung versagen Erklärungsversuche, die die jüngsten Krawalle unmittelbar als sozialen Protest der Unterschichten sehen. Genauer verfahren Untersuchungen, die die sozialen Beziehungen innerhalb der "Unterschicht" in den Blick nehmen.
Sie zeigen uns einen rapiden Verfall bislang allgemein akzeptierter Verhaltensweisen. Der normative Kitt, der die Gesellschaft über Klassengrenzen hinweg zusammenhält, bindet nicht mehr. Ein Leben nach festen moralischen Regeln würde voraussetzen, dass man es auf halbwegs funktionierende Weise bewältigen kann. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Die kriminelle Innovation
Der amerikanische Soziologie Robert Merton hat diese um sich greifende Gesetzlosigkeit, diese "Anomie" im Hinblick auf die Kriminalität untersucht. In der von ihm entwickelten Typologie sieht er Kriminalität dort entstehen, "wo jemand, weil er die von ihm erstrebten Ziele mit legalen Mitteln unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht erreichen kann, zu illegalen Mitteln greift, um zum Ziel zu kommen".
Er nennt dies "Innovation". Die Innovatoren teilen mit den "Konformisten" bei Merton die Ziele: etwa den Wunsch nach einem guten Leben. Sie lehnen es aber ab, sich bei der Verfolgung dieser Ziele auf legale Mittel zu beschränken. Die Wirksamkeit der kriminellen "Innovatoren" bemisst sich nach ihrem Erfolg, die anomische Basis in der Bevölkerung zu erweitern, neue Anhänger gesetzlosen Handelns zu gewinnen.
Dies geschieht umso leichter, wenn der Konformitätsdruck, sich "anständig" (so Camerons Forderung) zu verhalten, dadurch nachlässt, dass bei den Eliten selbst Kriminalität grassiert - und die Täter ungestraft davonkommen. Kriminelle aus der Elite dienen Plünderern und Brandschatzern zur Rechtfertigung, wenn nicht sogar zum Vorbild.
Wie stabil ist die Gruppe der gesetzlosen "Inovatoren"? Für Marx und Engels wäre die Sache klar gewesen: Sie erfanden die Kategorie des "Lumpenproletariats" zu ihrer Charakterisierung - und die war drastisch. Lumpenproletariat war für sie der "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen".
Das sind nach Marx "Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, dunkle Existenzen, nie den Tagesdiebcharakter verleugnend". Mag sein, sagt er, dass das Lumpenproletariat zum Teil "in die proletarische Bewegung hineingeschleudert wird, aber es wird bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen".
Keine Unterschichtentruppe
Dem Lumpenproletariat steht nach Marx und Engels eine disziplinierte kampfstarke Arbeiterbewegung gegenüber. Sie ist der Antagonist und Totengräber der Bourgeoisie. Die Arbeiterbewegung verkörpert die Zukunft, das Lumpenproletariat ist nur ein Fäulnisprodukt der niedergehenden bürgerlichen Ordnung.
So stellte es sich den "Klassikern" dar, aber welchen Erklärungswert hat heute, nach dem Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung, noch die Kategorie "Lumpenproletariat"?
Bei Marx und Engels ist der Begriff polemisch gegen die Anarchisten zugespitzt: kein Bündnis mit den Lumpenproletariern, wie es Bakunin fordert. Marx zählt mit geradezu liebevoller Akribie die Gruppen von Lumpen auf, vom verkrachten Lebemann über Gaukler bis zu Scherenschleifern (nicht zu vergessen: die Literaten) und betont damit die Heterogenität des Lumpenproletariats, seine Distanz zur Arbeiterklasse.
Deshalb ist er nicht willens, die engen Beziehungen zur Kenntnis zu nehmen, die zwischen der Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat bestanden. Seine Schlussfolgerung: Man muss sich diese Bande vom Hals halten. Den Rest wird die Revolution besorgen. Doch die ist leider ausgeblieben.
So unrecht Marx und Engels mit ihrem generellen Verdammungsurteil hatten, so recht hatten sie, wenn sie die Vielfältigkeit, die "Buntheit" des lumpenproletarischen Milieus hervorzuheben. Das gilt auch heute. In London und anderen Großstädten hat keine Gang zugeschlagen, keine homogene Unterschichtentruppe.
Viele der kriminell Gewordenen leben unter einem Dach mit Leuten, die eine geregelte Arbeit haben. Die grassierende Anomie ruft in den armen Vierteln individuelle wie kollektive Gegenwehr hervor. Anomie ist ansteckend. Aber Solidarität ist es auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern