Debatte Lügen und Manipulation: Die Wahrheit ist auf unserer Seite
Der US-Präsident lügt. Aber sind wir wirklich besser? Sorgfalt ist auch im privaten, oft lässigen Umgang mit der Wahrheit angebracht.
Der Name Donald Trump ist zum Inbegriff der Lüge geworden. Doch mal ehrlich: Auch wir Übrigen lassen der Wahrheit oft nicht den Respekt zukommen, den sie verdient. Schon einmal habe ich geschrieben, dass zum Beispiel Marketing eigentlich auch nichts anderes ist als eine Form von Lüge.
Fakten werden dabei so selektiert und präsentiert, dass sie dem anderen keine informierte Wahl lassen, sondern ihn oder sie in die gewünschte Richtung manipulieren. Und unsere Gesellschaft findet Marketing anscheinend okay, ebenso wie es völlig legitim ist, dass öffentliche Debatten von PR-Mechanismen bestimmt werden. Doch dieser strategische Umgang mit dem anderen verengt dessen Perspektive, beschneidet seinen Spielraum zu denken und zu entscheiden, was er will.
Aus demselben Grund ist Sorgfalt auch im privaten, oft recht lässigen Umgang mit der Wahrheit angebracht. Lässig deshalb, weil der Imperativ „Du sollst nicht lügen!“ heute ja einen ähnlichen Ruf hat wie „Du sollst Vater und Mutter ehren!“. Beide klingen für viele Ohren nach dem Rigorismus vergangener Zeiten, einem überkommenen Familien- und Menschenbild geschuldet, spießig und uncool.
Das Recht auf relevante Informationen
Tatsächlich allerdings ist das Verbot der Lüge wohl eher dem moralischen Grundsatz verwandt, man solle andere nicht töten, schlagen oder sonst wie verletzen (soweit vermeidbar). Denn Lügen richtet handfesten Schaden an, auch wenn man diesen Schaden vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht: Wer lügt, enthält der anderen Person Informationen vor, die sie braucht, um ihre Ausgangssituation bestimmen, und um sich zu entscheiden, entsprechend zu handeln.
Meistens merkt das belogene Opfer ja selbst vage, dass etwas „nicht stimmt“: zum Beispiel wenn unter Kolleg*innen oder in der Nachbarschaft Gerüchte kursieren, sich aber niemand traut, der betroffenen Person die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Nur dann allerdings könnte sie verstehen, warum einige neuerdings so sonderbar reagieren, und nur dann könnte sie gegen die Gerüchte vorgehen. Aus demselben Grund hat ein Mann das Recht zu erfahren, wenn seine Partnerin eine Liebesaffäre trotz gegenteiliger Versprechen fortgesetzt hat: Damit er nachdenken und entscheiden kann.
Der Referenzpunkt ist jeweils nicht die „absolute“ Wahrheit – niemand hat ein Recht auf vollständiges Wissen über alles und jeden, sondern es kommt auf die (rechtlichen und persönlichen) Beziehungen und Vereinbarungen zwischen den Beteiligten an. Wenn ein entsprechendes Agreement vorliegt, muss es nicht notwendig eine Lüge sein zu sagen, man sei mit Susi im Schwimmbad gewesen, wenn man tatsächlich Sex mit Olaf hatte.
Noch einmal: Die entscheidende Frage ist, ob man dem anderen relevante Informationen vorenthält, auf die er oder sie ein Recht hat; entweder um selbstbestimmt zu handeln, oder um erst einmal die Welt so zu interpretieren, dass er/sie in ihr sinnvoll handeln kann.
Wer einen anderen wissentlich täuscht, respektiert dessen Willen nicht und verletzt seine Autonomie. Und das ist kein kleines Vergehen wie das Mitnehmen eines Kugelschreibers aus dem Büro oder ein Kavaliersdelikt. (Wobei mich letzteres Wort ehrlich gesagt stutzig macht – mir schwant Fürchterliches. In früheren Jahrhunderten prahlten Kavaliere freimütig mit Delikten, die wir heute als Vergewaltigung erkennen.)
Doch es gibt – neben Marketingstrategien und privatem „Schummeln“ – noch einen dritten Fall von Unwahrheit, der mir Sorgen macht. Und zwar denke ich an solche Fälle, wo „wir Multikulturalist*innen“, wie ich der Einfachheit einmal sagen möchte, das Gefühl haben, selbst an der Wahrheit herummanipulieren zu müssen, damit die Rechten aus den Informationen kein Kapital schlagen. Ich denke an solche Momente wie nach den beiden Silvester, an Statistiken zu Zwangsheiraten und Gewalttaten in Familien und dergleichen mehr. Oder man erinnere sich an das letzte Mal, als im Radio von einer Sexualstraftat oder einer Messerstecherei auf einem Schulhof berichtet wurde.
„Hoffentlich war es kein …?“
Jedes Mal folgt dieser Bruchteil einer Sekunde, wo wir bangen: „Hoffentlich war es kein …?“ Die Färbung des gesamten Geschehens und der Berichterstattung und dessen, was wir darüber denken, wird inzwischen von der ethnischen Herkunft der Täter bestimmt. Auch bei uns, den Multikulturalist*innen! Nur halt irgendwie umgedreht, ein bisschen um die Ecke, voller Gedanken zweiten und dritten Grades, was passieren könnte, wenn …
Aber wir dürfen nicht länger zulassen, dass uns die Rechten vor sich hertreiben. Denn die Probleme mit einer „politisch unbequemen“ Wahrheit entstehen ja nicht, weil die Wahrheit an sich so unbequem ist, sondern sie folgen daraus, wie sie verwendet wird. Männer aller Bevölkerungsgruppen begehen Sexualstraftaten.
Nur bei den Tätern „von woanders“ wird jeder einzelne Fall bundesweit publik; wir müssen von all unseren Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsendern verlangen, eine allgemeine Richtlinie zu entwickeln, die dann für wirklich alle von der Polizei vermeldeten Straftaten gilt. Und selbst wenn irgendwo ein Flüchtling eine Straftat begangen hat, müssen wir den Deppen von rechts, die gleich nach einer Schließung aller Grenzen rufen, entgegenhalten: Überall, wo Menschen leben, passiert so etwas. Leider.
Manchmal helfen gezielte Kampagnen an bestimmten Orten und für riskante Situationen. Dann sollte man genau das tun, statt Merkel spöttisch zu „danken“. Doch zur garantierten Vorbeugung von Verbrechen würde es nicht reichen, die Grenzen zu schließen, auch im Inland müsste man Nachwuchs komplett verhüten. Nur wo keine Menschheit, da keine Straftat.
Aber halt auch keine Menschheit. Also lasst uns bei der Wahrheit bleiben! In ganz wenigen Fällen (zum Beispiel bei einer Bombendrohung im voll besetzten Stadion) empfiehlt sich schweigen und notfalls lügen. Aber in den meisten Fällen ist die Wahrheit neutral oder sogar auf unserer Seite.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt