Debatte Leben ohne Rohstoffe: Die Schere im Kopf
Recyceln gilt als unsexy und rückwärtsgewandt. Die Produktion von Waren aber bedeutet Fortschritt. Dieses Bewertungsschema ist hinfällig
Um es gleich zu sagen: Knappe Rohstoffe und steigende Preise sind nicht das zentrale Problem, wenn es darum geht, unsere Wirtschaft zukunftsfähig zu machen. Viel wichtiger ist es, den Blick sowohl auf die Produktivität der Natur als auch auf das "gesellschaftliche Naturprodukt" zu richten: Denn wenn Menschen produzieren und konsumieren, gestalten sie immer auch die Natur um. Dabei ist die Natur nicht "außen", nicht getrennt von uns. Vielmehr ist sie unauflöslich mit uns verbunden. Klimawandel und Verlust an Biodiversität sind Folgen unseres Wirtschaftens. Auch Rohstoffknappheit und Umweltverschmutzung sind keineswegs naturgegeben, sondern menschengemacht - durch eine Ökonomie, die nicht in der Lage ist, ihre Grundlagen zu erhalten, sondern die diese zerstört.
Warum ist das so? Kurz gefasst lautet die Antwort: weil unsere kapitalistische Ökonomie eine Trennungsstruktur aufweist - die Trennung von Produktion und sogenannter Reproduktion. Als "produktiv" gilt, was sich in Waren und Dienstleistungen für den Markt ausdrückt. Als "reproduktiv" gelten alle Leistungen des Wiederherstellens und Erneuerns, die dem vor- und nachgelagert sind. Das sind zum einen die Leistungen der Natur, wozu die ständige Erneuerung der Atemluft durch Pflanzen ebenso gehört wie die Vielfalt der Arten oder das Vorhandensein von Mineralien und Rohstoffen in der Erdkruste. Und ebenfalls als "reproduktiv" gelten sorgende Tätigkeiten, durch die Leben erst ermöglicht und wodurch Arbeitskraft hergestellt und erneuert wird.
Was als produktiv gilt, wird bewertet. Dagegen geht das Reproduktive nicht in die heutige ökonomische Rechnung ein - obwohl die Sphäre der Produktion vollständig davon abhängt. Der kapitalistische Verwertungsprozess eignet sich diese Leistungen unentgeltlich an. Somit wird das "Reproduktive" gleichzeitig ausgegrenzt und einverleibt.
Diese Ausgrenzung wirkt zerstörerisch. Sowohl ökologische Krisen wie der Klimawandel als auch soziale Krisen wie Kinderarmut und Jugendkriminalität sind Folgen dieser Konstruktion. Beide sind Ausdruck ein und derselben Krise - der Krise des "Reproduktiven". Unser gegenwärtiges ökonomisches System basiert auf der Zerstörung ökologischer und sozialer Lebensprozesse und enthält keinen Ansatz zu einem langfristig erhaltenden Umgang mit seinen lebendigen Grundlagen. Im Gegenteil: Auch die Versuche der Krisenbewältigung folgen der gleichen Logik wie die Strategien, die die Krise hervorgerufen haben. So soll der Knappheit fossiler Energieträger durch Atomkraft begegnet werden - obwohl das absaufende Atommüllendlager Asse II und mehrere Unfälle in europäischen AKWs in den letzten Wochen erneut bewiesen haben, dass mit dieser Technik für heutige und künftige Generationen nicht sicher umzugehen ist. Kohlekraftwerke sollen durch CO2-Abscheidung und Einlagerung der Gase in unterirdischen Hohlräumen klimafreundlich werden. Was aber mag passieren, wenn zukünftige Generationen auf der Suche nach ihren Rohstoffen diese Lager anbohren?
Eine solche Ökonomie ist nicht zukunftsfähig. Was also tun? Die Antwort liegt auf der Hand: Es gilt, die Ökonomie so umzugestalten, dass die Trennung in Produktion und Reproduktion aufgehoben wird. Die Produktivität des Reproduktiven muss integriert werden. Ziel künftigen Wirtschaftens muss es sein, die lebendigen Grundlagen und damit die eigentlichen Quellen des Wirtschaftens zu erhalten. Es gilt, eine (re)produktive Ökonomie zu erfinden - eine Ökonomie, deren Prinzip lautet: Erhalten im Gestalten, wobei Erhalten immer auch Erneuern bedeutet.
Die generelle Handlungsregel für eine solche Wirtschaftsweise lautet: "Stelle heute deine Güter so her und verbrauche sie derart, dass die hergestellten Produkte zu produktiven Ressourcen für deine Ur-Ur-…-Urenkel werden." Ein solches Wirtschaften ist vorsorgendes Wirtschaften. Es berücksichtigt die verschiedenen Zeiten der Menschen und der Natur, und es orientiert sein Handeln an lokalen, regionalen und globalen Gegebenheiten. Auch Schonung und Nichthandeln sind Möglichkeiten effektiver Tätigkeit.
Was heißt das konkret? Energetisch ist die Antwort klar: Eine (re)produktive Ökonomie basiert auf erneuerbaren Energien und treibt die Entwicklung der Solarenergie voran. Materiell-technisch ist diese Ökonomie eine auf Qualitäten ausgerichtete Stoffwirtschaft. Die Natur ist sowohl Ausgangspunkt als auch Endpunkt des Produktions- und Konsumtionsprozesses. Um ihre Produktivität zu erhalten, müssen "Abfallstoffe" so gestaltet sein, dass sie die Produktivität der Natur stärken. Sie dürfen nur bedingt giftig sein und müssen sich an die Verarbeitungsfähigkeit und -zeit der Natur anpassen. Die Mengen sind in jedem Fall begrenzt und richten sich nach den Kapazitäten der Natur. Schon bei der Planung von Produktion und Konsum müssen diese Faktoren einbezogen werden.
Sozial-kulturell bedeutet die neue Art des Wirtschaftens, alle Produktivitäten in das Ökonomische einzubeziehen und zu bewerten. Der Begriff der Arbeit muss erweitert, insbesondere muss die Sorgearbeit einbezogen werden. Jede Form der Produktivität ist gleichwertig und gleich wichtig. Geschlechtsspezifische Zuordnungen und Abwertungen verlieren ihren Sinn. Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit sind nicht mehr nur moralische Anliegen. Vielmehr wird Gerechtigkeit - auch weltweit - zur Basisressource (re)produktiven Wirtschaftens.
Politisch gestaltet und gesteuert wird diese Ökonomie über breite gesellschaftliche Diskurse. Welche Leistungen privat, welche öffentlich erbracht werden sollen, muss ebenso gesamtgesellschaftlich entschieden werden wie Regulierungen oder der Raum für Märkte. Eine solche neue Ökonomie passt zu einer modernen BürgerInnengesellschaft, in der die Menschen als Alltagsexperten an der Gestaltung des Gemeinwesens verantwortlich mitwirken. Das Primat der Politik über die Ökonomie kehrt zurück - und spielt beispielsweise auch eine Rolle bei der Bestimmung von Löhnen und Preisen. Denn (re)produktives Wirtschaften beruht auf (re)produktiven - das heißt lebenserhaltenden - Löhnen und Preisen. Dagegen hat der Markt für so etwas kein Gespür.
(Re)produktive Ökonomie ist keine Utopie. Die Transformation dorthin ist schon weltweit in Gang. Ein Beispiel sind Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen die Monopolisierung ihres Saatguts wehren und eigene Saatgutbanken anlegen. Vielerorts entstehen auch lokale ökonomische Strukturen, häufig in Form von "solidarischer Ökonomie". Aber: Dieser Transformationsprozess ist nicht geradlinig, er ist nicht ohne Anstrengung zu haben, und weil es Verlierer geben wird, wird er nicht friedvoll verlaufen. Denn (Re-)Produktivität macht unabhängig von Macht und Märkten, von kapitalistischen Profitinteressen, und ist aus diesem Grund umkämpft. Anders aber ist Zukunftsfähigkeit nicht zu erreichen.
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