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Debatte LampedusaUnd ganz plötzlich 250 Tote

Kommentar von Riccardo Valsecchi

Von außen gesehen, ist Berlusconi nur eine Witzfigur. Doch wenn es gegen Flüchtlinge geht, ist sich die politische Klasse in Italien einig: "Sie gehen uns auf den Sack."

Die italienische Insel Lampedusa: 5.000 Migranten aus Tunesien. Bild: reuters

K lappe und - Action! Das Skript ist immer gleich, der Protagonist derselbe: Ein alter, kleiner Mann, der sich das Gesicht mit Kosmetika vollschmiert und vier Zentimeter hohe Absätze trägt; ein gnadenloser Egozentriker, der, um weniger egozentrisch zu wirken, idiotische Versprechungen macht. Und je frenetischer die Menge ihm zujubelt, desto mehr legt er sich ins Zeug: " Ab morgen erlöse ich euch von allen Sorgen!" Applaus. "Ich werde mir hier eine Villa kaufen!" Applaus. Ein Golfplatz wird entstehen und, warum nicht, ein Spielkasino. Noch mehr Applaus.

Das Ganze spielt sich aber nicht wie 2009 in den Ruinen der vom Erdbeben zerstörten Stadt LAquila ab, sondern auf einer winzigen Insel im Mittelmeer: auf Lampedusa, an dessen Stränden Menschen aus Nordafrika nicht landen, um an die Roulettetische zu kommen: Sie werden als Leichen angeschwemmt oder als Verzweifelte, die einfach nur froh sind, die Überfahrt überlebt zu haben.

Ganz Europa fragt sich: Warum hören sich die Italiener diesen Mist immer noch an? Die Antwort ist so einfach wie traurig: Sie haben keine Alternative. Um diese These zu belegen, muss man einen Schritt zurückgehen. Am 17. März 2011 feiert ganz Italien sein 150-jähriges Bestehen als Nationalstaat. Ganz Italien? Nein! Eine gar nicht kleine, xenophobe und separatistische Partei, die Lega Nord, macht nicht mit.

Bild: privat
RICCARDO VALSECCHI

RICCARDO VALSECCHI hat Philosophie und Literaturwissenschaft studiert. Seit 2007 lebt er in Berlin und arbeitet als Journalist und Fotograf. In Italien ist gerade ein Band mit Reportagen aus Osteuropa erschienen: "Io viaggio verso est.

Dabei ist sie Koalitionspartner in der Regierung von Ministerpräsident Berlusconi. Im Jahr 2011 jährt sich auch zum 100. Mal der italienische Kolonialüberfall auf Libyen - und schließlich beschließt die UNO eben am 17. März die Resolution 1973, die die Internationale Gemeinschaft zur Errichtung einer Flugverbotszone über dem nordafrikanischen Staat ermächtigt.

Gefahr einer "kolonialen Intervention"

Italiens Außenminister Frattini ist ausnahmsweise einmal nicht in Urlaub, wenn eine außenpolitische Krise ins Haus steht. Zur großen Freude von Verteidigungsminister La Russa - einem Postfaschisten der Koalitionspartei Nationale Allianz - kündigt er an, sich an der Militäroperation zu beteiligen. Eigentlich gibt es dazu auch keine Alternative: Italien ist von seiner geografischen Lage her die ideale Ausgangsbasis für die Überwachung des libyschen Luftraums. Und doch beginnt sofort der politische Streit.

Die Demokratische Partei (PD) und der sogenannte Dritte Pol - ein Sammelsurium von Überläufern aus Regierung und Opposition - stimmen der UN-Resolution zu. "Italien der Werte" (IdV), die Oppositionspartei des Exstaatsanwalts Antonio di Pietro, sieht hingegen die Gefahr einer "kolonialen Intervention" und findet sich damit überraschenderweise in Übereinstimmung mit ihrem politischem Hauptgegner, der Lega Nord: Roberto Calderoli, "Minister für Vereinfachungen in der Gesetzgebung" und berüchtigt für seine geschmacklosen antiislamischen Provokationen, erklärt, es müsse eine parlamentarische Aussprache stattfinden, um sicherzustellen, dass sich die Intervention nicht in eine neue Kolonialisierung verwandelt.

Das Wahlvolk der Lega versteht gar nichts mehr. Parteichef Umberto Bossi muss erklären, warum sich die Fremdenhasser plötzlich um humanitäre Angelegenheiten sorgen sollen. Auf die Frage, wie die Regierung mit dem wachsenden Strom von Bootsflüchtlingen auf Lampedusa umgehen wolle, antwortet er: "Sie gehen uns auf den Sack. Wir werden sie loswerden." Und Berlusconi? Sagt gar nichts außer dem Satz, der viele perplex zurücklässt: "Es schmerzt mich, was mit Gaddafi geschieht."

PD und IdV, die bisher nicht allzu laut gegen Berlusconis Freundschaft mit dem libyschen Diktator protestiert hatten, legen jetzt los. Und in der Tat geht es ja um mehr als eine durch "Bunga-Bunga"-Spielchen genährte Wahlverwandtschaft. Seit dem Freundschaftspakt von Bengasi aus dem Jahr 2008 sind Libyen und Italien enge Verbündete, wirtschaftlich vielfältig verbandelt und vor allem einig in der Abwehr von Flüchtlingen von den italienischen Küsten. Berlusconis Handkuss für Gaddafi ging um die Welt. Dass auch die Abgeordneten der PD dem Vertrag zustimmten, macht hingegen kaum Schlagzeilen.

Die Debatte über die Intervention nimmt nun mit vielen Widersprüchen, Beleidigungen und Eifersüchteleien quer durch alle Lager ihren Lauf. Berlusconi hält sich raus, Di Pietro nennt ihn ein "Kaninchen". Am 26. März kommt es schließlich zur Abstimmung: Die Vorlagen von Regierung und Opposition sind identisch! Beide sprechen sich für die Teilnahme Italiens aus: So kaufen Eltern, um keinen Ärger zu bekommen, beiden Kindern das gleiche Spielzeug.

Grundsätzlich ja, praktisch nein

Inzwischen ist die Lage auf Lampedusa immer kritischer geworden. Die Rede ist von 5.000 Migranten aus Tunesien, das nur 113 Kilometer entfernt liegt. Sie müssen im Freien schlafen, es fehlt an Essen und Medikamenten. Die Einwohner der Insel fordern die Politik verständlicherweise auf, etwas zu unternehmen. Aber es ist nicht so, dass die sie vergessen hätte. Jeden Abend sieht man Politiker im Fernsehen, wie sie um die Definition dieses Zustroms streiten: Sind es nun Wirtschaftsflüchtlinge? Oder vielleicht doch Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Haben sie also ein Anrecht auf Hilfe? Aber wer hätte das nicht alles -!

Aus den 5.000 werden 8.000. Und nun sind wir wieder bei Berlusconis Rede auf der Insel. Er verkündet die Aufteilung der Flüchtlinge über ganz Italien. Von den 20 Regionen des Landes erklären sich nur 8 bereit, Auffanglager einzurichten. Unter denen, die ablehnen, sind keineswegs nur die von der Lega dominierten im Norden: Auch die Marken, Umbrien und die Toskana - von den Demokraten regiert - verweigern sich de facto, während ihre Repräsentanten ein mehr oder weniger interessiertes TV-Publikum an ihren Reflexionen über die grundsätzliche Notwendigkeit humanitärer Hilfe teilhaben lassen.

Am 6. April, um 4 Uhr morgens, nur eine Woche nach dem großen Auftritt des Ministerpräsidenten, treiben dann 250 Leichen auf dem Meer vor Lampedusa, Männer, Frauen und Kinder, die meisten aus Eritrea und Somalia. Kann das alles irgendwer verstehen? Und doch ist es der Grund, warum die Italiener nicht aufhören, Berlusconi zu wählen.

Übersetzung: Ambros Waibel

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4 Kommentare

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  • R
    Rolle

    In der ganzen Sache schockiert mich wirklich das Verhalten der deutschen Regierung. Ich kann mich einfach noch zu gut an die Wochen vor dem 22. August 1992 in Rostock Lichtenhagen erinnern.

     

    Damals hieß es aus der CDU-Regierung, man müsse die Menschen – also die rassistischen Angreifer – ja verstehen, weil die Situation mit den Asylbewerbern ja wirklich unerträglich sei – also nicht unerträglich für diese, sondern die armen Menschen aus Rostock.

    Aber worauf es mir jetzt ankommt: Damals zeigte sich die hässlichste Fratze der rassistischen Gewalt, nachdem eine Stadt die ankommenden Flüchtlinge offensichtlich nicht richtig unterbringen konnte und daher viele der Asylbewerber auf der Wiese vor de, ZAST campieren mussten. Nun steht Italien vor einen ganz ähnlichen Problem. Und was macht die deutsche Regierung? Wochenlang Nichts! Sie meint es sei ein Problem Italiens und Deutschland brauche sich nicht zu kümmern. Nun werden endlich wenigsten Visa vergeben...

     

    Nur so nebenbei – es war die deutsche Politik, die für die Aufnahme der `sicheren Drittstaatregel´ in die EU-Flüchtlingspolitik sorgte, also ein Staat, der von solchen Umgeben ist und damit alle Flüchtlings“probleme“ auf die Staaten am Mittelmehr abschiebe konnte. Was eine miese Heuchelei! Jetzt nicht gemeinsam mit der EU für eine schnelle Verteilung der ankommenden Menschen auf verschiedene Staaten zu organisieren und ihnen in diesen ein ordentliches Asylverfahren anbieten ist menschenverachtend. Hier werden die angeblich für das Selbstverständnis der EU und Deutschlands so wichtigen Grundwerte einfach im Mittelmehr versenkt.

     

    Einerseits führen wir also endlich wieder gerechte Kriege in Libyen um dort allen Menschen Demokratie, Freiheit, Brot, Glückseeligkeit und westlichen Wohlstand zu ermöglichen, anderseits sind uns eben diese Werte an den eigenen Eingangstoren völlig egal. Die neue Kriegslust der westlichen Welt kann nur erschrecken in Verbindung mit der zeitgenössischen Politik der europäischen Grenzregimes ist sie eine wahre Schande, wir werden unseren Kindern erklären müssen, wie wir der Politik glauben konnten, sie setzte sich für eine Welt der Menschenrechte ein, wobei sie letztlich – wie das immer so ist – einfach einen guten Kriegsgrund brauchten.

  • TF
    Thomas Fluhr

    Kann das alles irgendwer verstehen, dass der Rest Europas nichts unternimmt? Alle sind froh, dass Italien diesen Schwarzen Peter hat und nicht sie. Da sind Menschen, die Hilfe brauchen, aber es wird sich versteckt hinter Quoten und bürokratischen Hürden, es geht nicht (na ja warum auch) um Menschen. Sorry, ich bin naiv.

  • R
    rutschkaretnuvolek

    Solange Kapital "neo"liberal die Grenzen überschreitet bin ich für grenzenlose Grenzen. Solange das Geld keine Grenzen kennt sollte man für Menschen auch keine haben. NO BORDER NO NATION

  • R
    Ricardo

    Ja Italien ist aus der Sicht von aussen nicht einfach zu verstehen. Es hilft, wenn man eine Zeit da gelebt hat. Ich habe 1,5 Jahre sowohl in Rom als auch in Berlin verbracht und Sie werden es nicht Glauben, die Menschen in Rom und Berlin sind nicht so verschieden, wie es auf den ersten Blick schein. Der Verlauf der Geschichte hat aber zu unterschiedlichen Ausdrucksformen geführt. Die Motive dahinter sind aber die gleichen. Mensch bleibt Mensch, wenn er auch unterschiedlich sozialisiert wurde. Also weniger Empörung, (wenn es auch ab dem Theater das da verführt wird manchmal schwer fällt)ist angebracht und die Frage ob denn die Leute bei uns anders reagieren sollte schon auch gestellt werden. Gerade von einem linken Blatt.