Debatte Lampedusa: Und ganz plötzlich 250 Tote
Von außen gesehen, ist Berlusconi nur eine Witzfigur. Doch wenn es gegen Flüchtlinge geht, ist sich die politische Klasse in Italien einig: "Sie gehen uns auf den Sack."
K lappe und - Action! Das Skript ist immer gleich, der Protagonist derselbe: Ein alter, kleiner Mann, der sich das Gesicht mit Kosmetika vollschmiert und vier Zentimeter hohe Absätze trägt; ein gnadenloser Egozentriker, der, um weniger egozentrisch zu wirken, idiotische Versprechungen macht. Und je frenetischer die Menge ihm zujubelt, desto mehr legt er sich ins Zeug: " Ab morgen erlöse ich euch von allen Sorgen!" Applaus. "Ich werde mir hier eine Villa kaufen!" Applaus. Ein Golfplatz wird entstehen und, warum nicht, ein Spielkasino. Noch mehr Applaus.
Das Ganze spielt sich aber nicht wie 2009 in den Ruinen der vom Erdbeben zerstörten Stadt LAquila ab, sondern auf einer winzigen Insel im Mittelmeer: auf Lampedusa, an dessen Stränden Menschen aus Nordafrika nicht landen, um an die Roulettetische zu kommen: Sie werden als Leichen angeschwemmt oder als Verzweifelte, die einfach nur froh sind, die Überfahrt überlebt zu haben.
Ganz Europa fragt sich: Warum hören sich die Italiener diesen Mist immer noch an? Die Antwort ist so einfach wie traurig: Sie haben keine Alternative. Um diese These zu belegen, muss man einen Schritt zurückgehen. Am 17. März 2011 feiert ganz Italien sein 150-jähriges Bestehen als Nationalstaat. Ganz Italien? Nein! Eine gar nicht kleine, xenophobe und separatistische Partei, die Lega Nord, macht nicht mit.
RICCARDO VALSECCHI hat Philosophie und Literaturwissenschaft studiert. Seit 2007 lebt er in Berlin und arbeitet als Journalist und Fotograf. In Italien ist gerade ein Band mit Reportagen aus Osteuropa erschienen: "Io viaggio verso est.
Dabei ist sie Koalitionspartner in der Regierung von Ministerpräsident Berlusconi. Im Jahr 2011 jährt sich auch zum 100. Mal der italienische Kolonialüberfall auf Libyen - und schließlich beschließt die UNO eben am 17. März die Resolution 1973, die die Internationale Gemeinschaft zur Errichtung einer Flugverbotszone über dem nordafrikanischen Staat ermächtigt.
Gefahr einer "kolonialen Intervention"
Italiens Außenminister Frattini ist ausnahmsweise einmal nicht in Urlaub, wenn eine außenpolitische Krise ins Haus steht. Zur großen Freude von Verteidigungsminister La Russa - einem Postfaschisten der Koalitionspartei Nationale Allianz - kündigt er an, sich an der Militäroperation zu beteiligen. Eigentlich gibt es dazu auch keine Alternative: Italien ist von seiner geografischen Lage her die ideale Ausgangsbasis für die Überwachung des libyschen Luftraums. Und doch beginnt sofort der politische Streit.
Die Demokratische Partei (PD) und der sogenannte Dritte Pol - ein Sammelsurium von Überläufern aus Regierung und Opposition - stimmen der UN-Resolution zu. "Italien der Werte" (IdV), die Oppositionspartei des Exstaatsanwalts Antonio di Pietro, sieht hingegen die Gefahr einer "kolonialen Intervention" und findet sich damit überraschenderweise in Übereinstimmung mit ihrem politischem Hauptgegner, der Lega Nord: Roberto Calderoli, "Minister für Vereinfachungen in der Gesetzgebung" und berüchtigt für seine geschmacklosen antiislamischen Provokationen, erklärt, es müsse eine parlamentarische Aussprache stattfinden, um sicherzustellen, dass sich die Intervention nicht in eine neue Kolonialisierung verwandelt.
Das Wahlvolk der Lega versteht gar nichts mehr. Parteichef Umberto Bossi muss erklären, warum sich die Fremdenhasser plötzlich um humanitäre Angelegenheiten sorgen sollen. Auf die Frage, wie die Regierung mit dem wachsenden Strom von Bootsflüchtlingen auf Lampedusa umgehen wolle, antwortet er: "Sie gehen uns auf den Sack. Wir werden sie loswerden." Und Berlusconi? Sagt gar nichts außer dem Satz, der viele perplex zurücklässt: "Es schmerzt mich, was mit Gaddafi geschieht."
PD und IdV, die bisher nicht allzu laut gegen Berlusconis Freundschaft mit dem libyschen Diktator protestiert hatten, legen jetzt los. Und in der Tat geht es ja um mehr als eine durch "Bunga-Bunga"-Spielchen genährte Wahlverwandtschaft. Seit dem Freundschaftspakt von Bengasi aus dem Jahr 2008 sind Libyen und Italien enge Verbündete, wirtschaftlich vielfältig verbandelt und vor allem einig in der Abwehr von Flüchtlingen von den italienischen Küsten. Berlusconis Handkuss für Gaddafi ging um die Welt. Dass auch die Abgeordneten der PD dem Vertrag zustimmten, macht hingegen kaum Schlagzeilen.
Die Debatte über die Intervention nimmt nun mit vielen Widersprüchen, Beleidigungen und Eifersüchteleien quer durch alle Lager ihren Lauf. Berlusconi hält sich raus, Di Pietro nennt ihn ein "Kaninchen". Am 26. März kommt es schließlich zur Abstimmung: Die Vorlagen von Regierung und Opposition sind identisch! Beide sprechen sich für die Teilnahme Italiens aus: So kaufen Eltern, um keinen Ärger zu bekommen, beiden Kindern das gleiche Spielzeug.
Grundsätzlich ja, praktisch nein
Inzwischen ist die Lage auf Lampedusa immer kritischer geworden. Die Rede ist von 5.000 Migranten aus Tunesien, das nur 113 Kilometer entfernt liegt. Sie müssen im Freien schlafen, es fehlt an Essen und Medikamenten. Die Einwohner der Insel fordern die Politik verständlicherweise auf, etwas zu unternehmen. Aber es ist nicht so, dass die sie vergessen hätte. Jeden Abend sieht man Politiker im Fernsehen, wie sie um die Definition dieses Zustroms streiten: Sind es nun Wirtschaftsflüchtlinge? Oder vielleicht doch Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Haben sie also ein Anrecht auf Hilfe? Aber wer hätte das nicht alles -!
Aus den 5.000 werden 8.000. Und nun sind wir wieder bei Berlusconis Rede auf der Insel. Er verkündet die Aufteilung der Flüchtlinge über ganz Italien. Von den 20 Regionen des Landes erklären sich nur 8 bereit, Auffanglager einzurichten. Unter denen, die ablehnen, sind keineswegs nur die von der Lega dominierten im Norden: Auch die Marken, Umbrien und die Toskana - von den Demokraten regiert - verweigern sich de facto, während ihre Repräsentanten ein mehr oder weniger interessiertes TV-Publikum an ihren Reflexionen über die grundsätzliche Notwendigkeit humanitärer Hilfe teilhaben lassen.
Am 6. April, um 4 Uhr morgens, nur eine Woche nach dem großen Auftritt des Ministerpräsidenten, treiben dann 250 Leichen auf dem Meer vor Lampedusa, Männer, Frauen und Kinder, die meisten aus Eritrea und Somalia. Kann das alles irgendwer verstehen? Und doch ist es der Grund, warum die Italiener nicht aufhören, Berlusconi zu wählen.
Übersetzung: Ambros Waibel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative