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Debatte Krise des SchulsystemsDie Turbo-Auslese

Kommentar von Christian Füller

Die Krise des Gymnasiums und die der Hauptschule lassen sich nur gemeinsam lösen - und sie müssen gemeinsam diskutiert werden. Die Schule braucht eine neue Philosophie

Endlich. Nach der Gesamtschule und der Hauptschule kommt nun auch jene Schulform in die Diskussion, die bislang als unantastbar galt: das Gymnasium. In seiner neunjährigen Variante war es stets allseits beliebt. In seiner gestauchten achtjährigen Variante kommt das Gymnasium nun als G 8 zu sich selbst: Als Paukanstalt, die vor allem eine pädagogische Verkehrsform kennt: den Druck zur Auslese. Aber gemach, die älteste deutsche Schulform hat seit dem Schulstreit 1890 noch jeder Versuchung widerstanden, sich zu reformieren.

Ausgelöst hat die Gymnasialdebatte der Talkmaster Reinhold Beckmann - mit einem Wutanfall in seiner eigenen Sendung. Seine Kinder seien völlig gestresst und müssten bis in den späten Abend hinein Hausaufgaben pauken, polterte Beckmann. Schuld sei die rücksichtslose Verkürzung der Schulzeit von neun auf acht Jahre, schimpfte er.

Die Aktualitätsmedaille wird man dem Moderator dafür nicht umhängen. Über das Turbogymnasium wird gestritten, seit Ministerpräsident Edmund Stoiber es per Dekret in Bayern durchsetzte - und plötzlich Volksbegehren gegen sich und das G 8 hinzunehmen hatte. Dafür muss man Beckmann aber lassen, dass er viel bewirkt hat - sein Wutausbruch genügte, um eine muntere Debatte loszutreten. Die Bild-Zeitung startete sofort die Serie "Wie die Schule unsere Kinder kaputt macht", auch die feinen Feuilletons sekundierten.

Es passiert ja nicht zum ersten Mal, dass sich eine lange schwelende Schulkrise in einem Eklat entlädt. Wir erinnern uns. Erst gab es den Pisaschock, dann die Rütli-Krise und nun den Beckmann-Aufschrei. Niemand kann so genau erklären, wieso die ganze Nation in bestimmten Momenten so hochnervös auf bekannte Missstände reagiert. Nur gibt es auch einen wesentlichen Unterschied: Die Pisastudie zeigt seit 2001, dass das Schulsystem ein knappes Viertel seiner Insassen als Risikoschüler entlässt - passiert aber ist seitdem wenig, um den Bildungsverlierern zu helfen. Und in der Rütli-Krise hisste stellvertretend eine Hauptschule die weiße Fahne, um endlich damit Schluss zu machen, ganze Milieus auszusortieren. Aber auch in diesem Fall gilt: grundlegende Reformen - Fehlanzeige.

Ganz anders nun, wenn ein bildungsbürgerlicher Moderator Angst hat, dass seine Kinder am Gymnasium scheitern könnten. Schon springen mehrere Ministerpräsidenten helfend herbei: Die Stundenzahl wird reduziert! Den Kindern ihre Kindheit! Das Gymnasium wird gerettet! Und die gute alte Tante Zeit malt das Schreckgespenst eines Neoliberalismus an die Wand, der unsere schöngeistige Gelehrtenschule niederwalzt. Bei ihr avanciert das Gymnasium "zur erfolgreichsten und stabilsten deutschen Schulform".

Das Gymnasium - ein Paradeanstalt? Genau das ist die Fehleinschätzung. Die Penne ist in Wahrheit die reformresistenteste Schule. Das Gymnasium ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bis heute eine reine Wissensvermittlungseinrichtung.

Lehrer anderer Schulen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn man sie nach der "Pädagogik" der Oberschule fragt. Studienräte haben ihren Stoff im Kopf. Sie gehen davon aus, dass die Schüler das zu verstehen haben - schließlich haben sie Eleven vor sich. Sprich: Wer im Gymnasium nicht mitkommt, der gehört da nicht hin. Dort findet sich das Prinzip Auslesen statt Fördern am reinsten, ja, für das Gymnasium wurde die Selektion erfunden. Aber das ist eben nicht nur die Crux des Gymnasiums. Das ganze Schulsystem ist vom Auslesevirus erfüllt, es ist das Grundprinzip der deutschen Schule. Der Schüler hat sich nach dem Schulsystem zu richten.

Allerdings ist hierzulande Schule nicht gleich Schule. In der Wahrnehmung ist das Gymnasium immer ein bisschen wichtiger als der doofe Rest. Das Schulwesen ist in den Augen der BürgerInnen noch immer so tief gespalten wie zu Zeiten Friedrichs des Großen - in ein niederes und ein höheres. Schulverlierer und Rütli-Schulen, ja Gott, das beklagt eine elitäre Akademikerschicht. Aber denen da unten in den Hauptschulen glaubt sie am besten zu helfen, indem sie Sozialarbeiter und Wachschutz an die Gettoschulen abkommandiert. Pädagogisch reichen Reformen nicht viel weiter als Handwerksklassen für die nur "praktisch Begabten" einzurichten. Ali und Unterschichts-Kevin bekommen fortan schon in der allgemeinbildenden Schule Feile und Säge in die Hand gedrückt. Dass ihnen das auf dem Arbeitsmarkt des Jahres 2020 trotzdem keine Chancen bietet, weiß natürlich auch Reinhold Beckmann. Deswegen werden er und das Bildungsbürgertum dennoch nicht die Contenance verlieren. Nein, doch nicht wegen der Schmuddelkinder.

Dabei hätte die Gesellschaft allen Grund dazu, sich sowohl um die abgehängten Hauptschüler als um überforderte Gymnasiasten zu sorgen. Die Krise der Hauptschule und des Gymnasiums haben nämlich mehr miteinander zu tun, als Akademikern lieb sein kann. Denn eins ist der Haupt- wie der Oberschule gemein: Wenn ein Kind zurückbleibt, fragt die Schule doch nicht etwa: "Wie kann ich dir helfen?" Nein, die Schule will so oft wissen, "Wo sind deine Schwächen!", bis sie mitteilen kann: "Du gehörst nicht hierher!" Man kann also ein Schulsystem in einer schrumpfenden Wissensgesellschaft nicht oben und unten getrennt reformieren. Die Debatte um Hochqualifizierte, die Begabungslehre - dieser Mumpitz aus dem 19. Jahrhundert hat ausgedient. Wir brauchen jedes Kind. Dabei geht es übrigens nicht nur um Ökonomie. Jedes Kind braucht seine Chance aus seiner eigenen Würde heraus. Aber genau die ist der herrschenden Schule ziemlich egal.

Was wäre zu tun? Die Schule braucht eine neue Philosophie. Das Schulsystem muss sich endlich am Kind orientieren und nicht etwa umgekehrt. Das aber setzt so etwas wie eine pädagogische Revolution voraus, die in einer echten individuellen Förderung des einzelnen Schülers mündet. Das würde übrigens die Lehrer aus ihrer existenziellen Krise befreien: Dass sie als Pädagogen zwar jedes Kind optimal fördern wollen - das Schulsystem sie aber dazu zwingt, nach den Schwächen der Schüler zu suchen und sie dafür zu bestrafen. Diese Pädagogik muss zwingend auch die viel diskutierte Dreigliedrigkeit in Frage stellen.

Von heute auf morgen wird sich das nicht ändern. Immer noch ist der Leidensdruck nicht hoch genug. Immer noch finden unverbesserliche Propagandisten damit Gehör, das Gymnasium sei die beste aller Schulformen. Immer noch glauben einige, die staatlichen Stellen hätten ihre Lektion gelernt.

Aber keine Sorge. Die vollmundigen Versprechen mancher Ministerpräsidenten, Stunden würden reduziert und Lehrpläne entschlackt, werden an dem mittelalterlichsten aller Schulgremien locker abprallen: der Kultusministerkonferenz. Sie hat ihre ganz eigenen Prozeduren und Ansichten. Nichts liegt ihr ferner, als die Schule aufs 21. Jahrhundert vorzubereiten oder auf das einzelne Kind zu orientieren. CHRISTIAN FÜLLER

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1 Kommentar

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  • AW
    Andrea Wagner

    Die Reform des Gymnasiums zum G8 dient dazu, die soziale Selektion, auszubauen. Sie treibt auf die Spitze, dass Erdal nicht mit Ruben lernen und spielen darf und diese zwei Jungs auch nicht miteinander umgehen können, wenn sie sich doch mal zufällig auf der Straße treffen. Das Problem liegt tiefer und Herr Füller schreibt in derselben taz ganz richtig: ?Diese Pädagogik muss zwingend auch die viel diskutierte Dreigliedrigkeit in Frage stellen.? Mein ältester Sohn geht auf eine Gesamtschule. Er hat Kontakt mit Erdal und Ruben und schreibt Realschulnoten. Er hat dort einen Stundensatz von 42,5 Stunden. Trotzdem kommt er relativ zufrieden und ausgeglichen von der Schule zurück. Vielleicht weil er dort mit Erdal die Hausaufgaben macht und mit Ruben Fußball spielt? Ich frage mich leise, aber trotzdem provokant: Wenn Schüler am Gymnasium so viel Zeit zum Lernen brauchen, dass sie nicht mehr Fußball spielen können, müssen sich die Eltern die Frage stellen, ob ihr Kind an einer guten Realschule oder einer Gesamtschule nicht besser aufgehoben wäre. Solange es die Dreigliedrigkeit gibt, wäre es günstiger für den Ausbau der Gemeinschaftsschule zu demonstrieren, als gegen zu voll gepackte Stundentafeln am Gymnasium. Und wahrscheinlich jammern diejenigen Eltern, deren Kinder jetzt am Gymnasium überfordert sind am lautesten, die beim Viertklasselternstammtisch peinlich geschwiegen haben, wenn eine (akademische) Mutter sagt, dass ihr Kind ?nur? eine Realschulempfehlung hat.

    Herr Beckmann und die klagenden deutschen Eltern, können ihren Kindern beim Lernen helfen, ein Migrantenkind, das aufs Gymnasium geht, hat diesen Vorteil meist nicht, und muss doppelt so viel arbeiten, um das gleiche Ziel zu erreichen. Die deutschen Mitschüler dürfen sich dann auch ruhig mal anstrengen, denn schließlich können sie hinterher studieren und kriegen später hoffentlich ein größeres Stück vom Jobkuchen, als der Hauptschüler, der in der Warteschleife BVJ stecken bleibt. Und ganz nebenbei bemerkt: es gibt genug Hochschullehrende, die über die Arbeitsmoral der heutigen Abiturienten klagen. Witzigerweise über die Deutschen, denn die Studierenden mit Migrationshintergrund sind wissbegierig und arbeiten hart, um ihre Ziele zu erreichen.