Debatte Große Koalititon: Merkels Transformismus
Die Krise hat das Bündnis mit der SPD entbehrlich gemacht - und mit ihrer Hilfe kann die Kanzlerin nun auch die FDP domestizieren.
A n diesem Dienstag tagt der 16. Deutsche Bundestag zum letzten Mal, und die Bilanzen nach vier Jahren großer Koalition sind nicht freundlich. Beklagt wird die Mutlosigkeit einer Kanzlerin, die ihre reformerischen Überzeugungen beiseitelegte, und der Wankelmut einer SPD, die von der Zeit ihrer eigenen Kanzlerschaft kaum noch etwas wissen will.
Eine solche Kritik verkennt die Mechanismen des politischen Wandels, der sich in den vergangenen vier Jahren vollzog - und der typisch ist für den Konservatismus, der sich nach Phasen beschleunigter Veränderung regelmäßig einstellt.
Das beginnt schon mit der Behauptung, die Politik der SPD habe die Entstehung der Linkspartei hervorgerufen. Tatsächlich folgten die Wähler zunächst der bundesrepublikanischen Erfahrung, die andere Volkspartei würde ihnen schon geben, was ihnen die eine vorenthielt: Sie stimmten bei den Landtagswahlen der Jahre 2004 und 2005 für die Union. Der Bundestagswahlkampf 2005 machte ihnen klar, dass der Kurswechsel Angela Merkels ernst gemeint war. Erst damit begann der Aufstieg der Linkspartei.
Ralph Bollmann ist Leiter der Parlamentsredaktion der taz.
Die Wahlergebnisse des Jahres 2005 haben diesen Zusammenhang beiden Volksparteien in Erinnerung gerufen - auch wenn die Kanzlerin und ihr Vizekanzler Franz Müntefering zunächst noch glaubten, eine große Koalition könne ihn aushebeln. Diese Annahme wurde mit dem Dresdener CDU-Parteitag Ende 2006 widerlegt, als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers einen Beschluss über die Verlängerung des Arbeitslosengelds für Ältere durchsetzte und damit Münteferings Position in der SPD unhaltbar machte.
Damit waren die Verhältnisse der alten Bundesrepublik wiederhergestellt, als sich die beiden Volksparteien in der Sozialpolitik links zu überholen wussten - falls denn die statuserhaltende Verteilungspolitik des rheinischen Kapitalismus unter die Vokabel "links" zu fassen ist. Seither hat die große Koalition sozialpolitisch fast durchweg weiter "links" agiert als zuvor die rot-grüne Regierung. Es waren bis zur Krise Jahre eines starken Staates. Schwarz-Rot erhöhte die Steuern und profitierte von Mehreinnahmen durch den Aufschwung. Beendet schien die Zeit der Spardebatten.
Gesellschaftspolitisch knüpfte die große Koalition mit Initiativen wie Islamkonferenz oder Integrationsgipfel an die Politik der Vorgängerregierung an, bei Elterngeld und Kinderbetreuung ging sie darüber sogar hinaus. Stilistisch wurde der Führungsstil der Kanzlerin lobend vom Machismo Gerhard Schröders unterschieden.
Anders als Schröder, der über "die andere Seite" stets sprach wie über einen zu vernichtenden Feind, hat sich Merkel in den Jahren der großen Koalition zu einer Meisterin des politischen Transformismus entwickelt. Der Begriff stammt aus dem Italien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als der liberale Ministerpräsident Giovanni Giolitti verhärtete innenpolitische Fronten aufbrach, das Land modernisierte - und seine Bündnispartner holte, wo er sie gerade fand.
Im eigenen bürgerlichen Lager war die Entrüstung über die vermeintliche Prinzipienlosigkeit des Premiers ebenso groß wie in Teilen der Sozialistischen Partei, der er sogar Ministerposten anbot - in den Augen der Linientreuen Gipfelpunkt politischer Korruption. Trotz aller Anfeindungen blieb er ein Jahrzehnt lang der unumschränkte Herrscher des politischen Geschehens. Alles in allem war es für Italien ein glückliches Jahrzehnt, nicht zuletzt die Epoche der industriellen Aufholjagd eines zuvor rein agrarisch geprägten Landes.
Manche Historiker sehen in Giolitti jedoch den Urheber einer politischen Krankheit, die Italien seither nicht mehr verlassen hat - eines politischen Opportunismus, der Überzeugungen stets dem Diktat des taktischen Nutzens unterordnet, einer steten Bereitschaft zu oberflächlicher Veränderung, um die darunterliegenden Machtstrukturen zu bewahren. Vor allem aber die Schwäche eines Parteiensystems, das wenig später vor dem Faschismus kollabierte.
Um Mussolini den Weg zu ebnen, war in Italien freilich noch ein Weltkrieg nötig. Der Transformismus à la Merkel ist aus einer Schwäche des Parteiensystems hervorgegangen, die er weiter verschärft. Wenn fast alle Parteien die CDU-Vorsitzende im Zweifelsfall zur Kanzlerin wählen würden - dann gibt es kaum noch einen vernünftigen Grund, warum man dazu ausgerechnet die Christdemokraten wählen sollte. Es gibt überhaupt kaum noch einen Grund, zur Wahl zu gehen.
Das System Merkel feiert seinen Triumph in einem Moment, in dem seine Grundlagen erodieren. Der starke Staat der großkoalitionären Anfangsjahre weicht in der Krise einer schwachen öffentlichen Hand. Angesichts schwindender Beitrags- und Steuereinnahmen sowie ins Astronomische wachsender Belastungen wird sie alsbald zu Maßnahmen greifen müssen, von denen die Kürzungsprogramme der Schröder-Regierung allenfalls eine schwache Ahnung vermitteln.
Gleichwohl hat die Krise die große Koalition aus Merkels Sicht überflüssig gemacht. Bis vorigen Herbst war die Kanzlerin für den Machterhalt auf die SPD angewiesen. Innerhalb der eigenen Partei konnte sie ihren Adenauerschen Sozialdemokratismus nur mit dem Argument durchsetzen, anderes sei mit diesem Partner eben nicht möglich. Jetzt kann sie sagen, anderes sei im Angesicht der Krise nicht möglich. Das Argument vermag sogar einen liberalen Koalitionspartner zu domestizieren, wie dessen jüngste Sozialstaatsbekenntnisse belegen. Ohne die Krise wäre eine Koalition mit der FDP für Merkel die sichere Garantie gewesen für eine Wahlniederlage. Mit der Krise gilt das nicht mehr.
Aber auch mit einer Fortsetzung der großen Koalition wird Merkel leben können. Die derzeit weit verbreitete Annahme, spätestens zur Mitte der Wahlperiode werde die SPD die Bündnisoption wechseln, überzeugt nicht. Die zähen Koalitionsverhandlungen auf Landesebene zeigen die immensen Schwierigkeiten dieser Option, und auch das unterstellte Konfliktthema Afghanistan ist alles andere als zwingend. Um als Letzte an einem unpopulären Einsatz festzuhalten, ist Merkel zu sehr Transformistin.
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