Debatte Griechenland: Unrecht oder Armut
Haben die Griechen eine Wahl? Nein, angesichts der drohenden Ohnmacht des Staates müssen sie wohl die korrupten Altparteien wählen.
D ann, wenn alles vorbei ist, werden sie auf die Bösen zeigen: Angela Merkel, die das Spardiktat nicht aufweichen wollte, die EU-Kommission, die ihr dabei willfährig folgte, das internationale Finanzkapital, das die Profite kassieren konnte, und die eigenen Kapitalisten, die ihr Geld rechtzeitig ins Ausland gerettet und nie Steuern gezahlt haben. Und sie werden sich bemitleiden als die armen Opfer, die vor einem Scherbenhaufen stehen, der einmal ein Wohlfahrtsstaat gewesen ist und nun nur noch Drachmen mit sehr vielen Nullen zu verteilen hat.
So oder sehr ähnlich könnte es kommen, wenn bei den griechischen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag diejenigen die Oberhand gewinnen, die die Bevölkerung glauben lassen, der Staat könne einerseits aus den beschlossenen Sparbeschlüssen aussteigen, dürfe andererseits aber weiterhin die Milliardenhilfen von Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds kassieren.
Nichts spricht dafür, dass diese Rechnung aufgehen wird, auch nicht François Hollandes Wahl zum Staatspräsidenten Frankreichs. Der Austritt Griechenlands aus dem Euro hat für die Europäer einen Teil seines Schreckens verloren, ja scheint inzwischen beherrschbar. Eine Zustimmung zu neuen griechischen Krediten würde den anderen EU-Schuldnerländern signalisieren, auch sie müssten es mit dem Sparen nicht mehr so ernst nehmen. Deshalb wird es diese Zustimmung auch eher nicht geben.
Ist Co-Leiter des Ressorts tazeins.
Verdenken kann man es den Griechen dennoch nicht, dass viele von ihnen den Versprechungen von Syriza-Chef Alexis Tsipras glauben. Paradoxerweise haben die Europäer sie darin sogar gestärkt. Schließlich haben Politiker in Brüssel oder Berlin die desaströse Politik ihrer bisherigen Volksparteien Nea Demokratia und Pasok lange genug gebrandmarkt.
Absurde Wahlempfehlungen aus Brüssel
Sie haben die unfähigen Finanzämter angeprangert, über die Reichen berichtet, die nie Steuern zahlen mussten, über eine Klientelpolitik, die Müllmänner einstellte, aber die Müllwagen vergaß, über griechische Politiker, die auf wundersame Weise in den Besitz von Traumvillen gelangten, und über ein nicht existierendes Katastersystem, das die Bauern von Hilfen aus Brüssel abschneidet.
Doch jetzt, da Renten und Löhne sinken, aber dafür die Arbeitslosigkeit explodiert, jetzt, wo die Preise exorbitant gestiegen sind und das Wirtschaftswachstum tief ins Negative gesunken ist, jetzt sollen die Griechen diese Parteien, die sie nahe an den Bankrott geführt haben, wiederwählen - auf Wunsch derselben Brüsseler Sparkommissare und ihrer Helfer! Diese Wahlempfehlung grenzt ans Absurde. Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlachter selber: Der alte Sponti-Spruch gewinnt in Griechenland traurige Aktualität. Und doch ist diese Wahlempfehlung richtig.
Zur Charakterisierung des Klientelsystems von Nea Dimokratia und Pasok zählt leider auch, dass nicht nur diverse Politiker und Superreiche, sondern auch weite Teile der Bevölkerung davon profitiert haben. Auch die „kleinen Leute“ zahlten ihre Steuern nicht, soweit ihnen das möglich war. Auch sie erhielten schöne Posten im aufgeblähten öffentlichen Dienst, wenn sie über entsprechende Beziehungen verfügten.
Und genauso wie die Reichen ziehen auch die ganz normalen, nun von der Armut bedrohten Menschen jetzt ihre Bankguthaben ab - mit gewissen Unterschieden: Die einen parken ihr Geld in Genf oder kaufen Luxusimmobilien in London, die anderen überweisen ein paar Tausender den Verwandten in der Bundesrepublik oder bunkern es unter der heimischen Matratze. Alle aber eint: die Angst vor der Rückkehr der Drachme. Diese Furcht ist berechtigt.
Nun wäre es falsch, deshalb Arm und Reich in einen Topf zu werfen. Denn tatsächlich kommen die Wohlhabenderen voraussichtlich weitgehend ungeschoren aus der Krise, während Arbeitnehmer, Erwerbslose und Rentner die Zeche zahlen müssen. Es hilft allerdings nicht, aus dieser eklatanten Ungerechtigkeit den Schluss zu ziehen, deshalb gehörten die umstrittenen Sparbeschlüsse abgeschafft. Denn dadurch würde im nächsten Schritt, dem Staatsbankrott, das Unrecht nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch verschärft.
Es dreht sich der Magen rum
Eine Staatspleite mit der folgenden Wiedereinführung der Drachme bedeutete ja nicht nur, dass die eklatante Gefahr besteht, dass die griechischen Banken in die Pleite rutschen. Sondern auch, dass damit diejenigen, die ihr Geld noch nicht abgehoben haben, ihre Ersparnisse verlieren.
Das neue, alte Geld hätte nicht nur zur Konsequenz, dass künftig Exporte ins Ausland günstiger wären. Sondern vor allem, dass sich die Preise aller ausländischen Waren maßlos verteuern - und es geht hier um furchtbar viele Waren, denn Griechenland produziert selbst nicht viel. Es geht um Medikamente, um Benzin und Heizöl, Gas - um Lebensnotwendiges also.
Eine Staatspleite hätte zudem zur Folge, dass für die gekürzten Renten und die Gehälter im öffentlichen Dienst plötzlich kein Geld mehr da wäre - nicht für die Feuerwehr, nicht für die Busfahrer und nicht für die viel zu wenigen Steuereintreiber. Und selbst wenn die Gehaltszahlungen nach einer Währungsreform wieder einsetzten, dann wäre das Geld vielleicht noch die Hälfte wert. Enteignet würden also nicht die Reichen, sondern die Armen und die Mittelschicht.
Wer will, kann bei Eintritt dieses Horrorszenarios die Europäische Union, Angela Merkel oder die Finanzindustrie dafür verantwortlich machen und ein Ende des Kapitalismus einfordern. Nur nützt das den Menschen in Athen und Thessaloniki nichts mehr. Vielleicht aber der wachsenden Schar von griechischen Neonazis und Rechtsradikalen.
Es mag verrückt klingen, es dreht sich einem der Magen um, und doch führt kein Weg daran vorbei: Der kluge Grieche wählt eine der beiden korrupten Altparteien mit ihrem zwielichtigen Personal, ja am besten gar die konservative Nea Dimokratia, weil die als Einzige die Chance auf einen Wahlsieg besitzt. Der kluge Europäer hofft auf eine Niederlage von Syriza. Nicht etwa, damit es künftig gerechter zugeht. Sondern, damit sich Armut und Unrecht nicht ins Unermessliche steigern.
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