Debatte Frankfurter Friedenspreis: Das Risiko des Zerfalls
Liao Yiwu hat recht mit seiner Kritik an Menschenrechtsphrasen. Aber ein Zerbrechen Chinas gäbe keinen Grund zur Hoffnung.
D ie Rede, mit der sich der ins deutsche Exil gezwungene chinesische Schriftsteller und Demokrat Liao Yiwu für den Frankfurter Friedenspreis bedankt hat, wirft ein paar beunruhigende Fragen auf.
Kann es eine Brücke geben zwischen Liaos radikalem Postulat, dass das chinesische Imperium „auseinanderbrechen“ müsse und einer „westlichen“ Politik, die mit dem Anspruch auf realistische Prognosen auftritt? Und folgt aus Liaos Verurteilung der florierenden Geschäftsbeziehungen „des Westens“ mit China eine Möglichkeit, wie die westlichen Staaten die chinesischen Demokraten künftig wirksamer unterstützen könnten?
In der veröffentlichen deutschen Meinung nach der Rede Liaos dominiert eine Haltung, die man mit „pflichtgemäß gerührt sein und dann schnell vergessen“ beschreiben könnte. Zwischen der Welt des Dichters und der Welt politischer Notwendigkeit gebe es keine Vermittlung. Dem muss widersprochen werden. Liao äußert sich politisch und hat jedes Recht auf Auseinandersetzung mit seinen Thesen – und damit auch ein Recht auf Kritik.
ist taz-Autor und China-Liebhaber. War öfters dort, erst als Polittourist, dann nur noch als Tourist. Zuletzt schrieb er über die „Bunte Unterschicht“ und ihre Einstufung als „Lumpenproletariat“ (Marx) oder „Kriminelle“ (in der Elite).
Liao sieht im gegenwärtigen zentralisierten chinesischen Parteistaat die Quelle aller Unterdrückung und Ausbeutung. Er begnügt sich aber nicht damit, für den Gesamtstaat eine demokratische Verfassung und Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Auch eine Dezentralisierung, die den Basiseinheiten politische Macht überträgt, scheint ihm nicht hinreichend. Nur in der Zerschlagung des Großreichs sieht er die Gewähr für ein zukünftiges gutes Zusammenleben.
Bittere Erfahrung mit dem Zerfall des Zentralstaats
Liao stützt diese These mit einem Rekurs auf die angeblich harmonischen Zeiten in China vor der erzwungenen zentralstaatlichen Reichseinigung durch Kaiser Qin Shi Huang Di im Jahr 204 vor unserer Zeitrechnung. Ein Ausflug Liaos in den Mythos, der die bitteren Erfahrungen außer Acht lässt, die Chinas Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert mit den Folgen des Zerfalls zentralstaatlicher Autorität gemacht hat.
Gründete sich die Legitimation kommunistischer Herrschaft nach 1949 nicht gerade auf die Wiederherstellung von Staatlichkeit und territorialer Integrität? Die Angst in der Bevölkerung vor einem erneuten Auseinanderfallen des Staates zeugt jedenfalls von einem anhaltenden Trauma.
Das Auseinanderfallen des chinesischen Imperiums zu prognostizieren (und zu begrüßen) wird auch den europäischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert nicht gerecht. Man denke an das jüngste Beispiel aus der Katastrophenkette: Eine demokratische Föderation der jugoslawischen Staaten, wie sie die bosnische Führung vorschlug, scheiterte.
Als Konsequenz brach der Bürgerkrieg aus; dessen Resultat, die gegenwärtigen Nationalstaaten Exjugoslawiens, blieben weit hinter dem demokratischen Versprechen ihrer Gründung zurück.
China ist kein kein Vielvölkerstaat
Schließlich gilt es gegen Liaos Prognose zu bedenken, dass China in seiner gegenwärtigen Gestalt kein Vielvölkerstaat ist, wie es beispielsweise die Sowjetunion war. Neunzig Prozent der Bevölkerung bestehen aus Han-Chinesen, die bei aller territorialen Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Kultur, Sprache, Geschichte und Zivilisation als ein sehr starkes Band vereint.
Diejenigen Kräfte „im Westen“, die für China die Option einer Demokratie vertreten, sollten eine möglichst vielfältige, buntscheckige Reformbewegung unterstützen, auch wenn es dort Gruppierungen gibt, die mit dem Machtmonopol der Kommunistischen Partei (noch nicht) gebrochen haben. Deshalb laufen rigorose Abgrenzungen zwischen wahren und Pseudooppositionellen, wie sie Liao vornimmt, Gefahr, das oppositionelle Lager weiter zu marginalisieren.
Ein zweites beherrschendes Thema in Liaos Frankfurter Rede sind die „westlichen Konsortien“, die „unter dem Deckmantel des freien Handels mit den Henkern gemeinsame Sache machen, Dreck anhäufen“. Und Liao schlussfolgert: „Der Einfluss dieses Wertesystems des Drecks, das den Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand.“
Liao weist die Behauptung vieler „westlicher“ Analytiker zurück, dass der wirtschaftliche Aufschwung Chinas zwangsläufig zu demokratischen Reformen führen werde, sodass den Wirtschaftsbeziehungen mit dem „Westen“ eine demokratiefördernde Wirkung zukomme. Liaos Kritik besteht zu Recht, wie die Erfahrung fortdauernder Unterdrückung bei gleichzeitig hohen Wachstumsraten lehrt.
Liao prangert die heuchlerische Menschenrechtsphraseologie „westlicher“ Politiker an, ihre reale Funktion als Handelsvertreter, ihr Kuschen vor den chinesischen Machthabern. Nicht Demokratie werde gefördert, sondern die Eingliederung Chinas und seiner Ausbeuterelite ins globalisierte Profitsystem.
Rituelle Menschenrechts-Sprüchlein
Wäre es also konsequent, die ökonomischen Beziehungen als Druckmittel gegenüber der chinesischen Machtelite einzusetzen? Und wenn ja, wie? Dies zu untersuchen sieht Liao nicht als seine Aufgabe an. Seine Anklage hätte aber dennoch ein wichtiges Teilziel erreicht, wenn an der Vergesslichkeit der deutschen Politiker gekratzt, wenn Tiananmen ihnen häufiger ins Gedächtnis gerufen würde.
Wenn sie es bei ihren Besuchen in China nicht bei dem rituellen Menschenrechts-Sprüchlein beließen, sondern in dem Bewusstsein agieren würden, dass beide Länder gleichermaßen vom Handel abhängig sind. Und entgegen einer oft gehörten Meinung legt die chinesische Politik großen Wert auf das internationale Image als zivilisierte Nation.
Liao sieht als Reaktion auf den Sieg des Profitprinzips in China nur die Korrumpierung der verarmten Bevölkerung. „Die einfachen Leute, die zwischen Blut und Grausamkeit ihr Leben fristen müssen, verlieren noch den letzten Rest Anstand.“ Denn: „Elend und Schamlosigkeit bedingen einander.“
Gegen diesen pessimistischen Blick Liaos auf die Widerstandskraft des chinesischen Volkes lässt sich empirisch eine ganze Menge einwenden – man denke nur an die landesweit tausende Streiks und Demos gegen korrupte und diebische Funktionäre und Unternehmer. Aber mit der Überzeugung, dass ein tief greifender Mentalitätswandel in der Bevölkerung Voraussetzung für den Sieg der Demokratie ist, liegt er richtig.
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