piwik no script img

Debatte Flüchtlingspolitik EuropaLehren aus Lampedusa

Kommentar von Nadja Hirsch

Flüchtlinge haben das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren. Europa sollte ihnen aber auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern.

E s war ein Bild mit Symbolkraft, das in diesen Tagen über Europas Nachrichtenkanäle flimmerte. Erschöpft, aber mit hoffnungsvollem Gesicht steht ein junger Tunesier in einer langen Warteschlange auf der Insel Lampedusa. Er trägt eine weiße Sportjacke - auf dem Rücken der Schriftzug "Italia".

Doch Italien ist überfordert; die Situation auf Lampedusa verschärft sich jeden Tag dramatisch. Zu Recht fordert Italien Hilfe und Solidarität. Die EU ist nicht zuletzt auch eine Solidargemeinschaft. Das scheinen diejenigen vergessen zu haben, die jetzt nach Strafen, Sanktionen oder gar Schengen-Ausschluss rufen, sollte Italien Flüchtlinge auf eigene Faust weiterreisen lassen.

Dieses Denken darf nicht Mehrheitsmeinung werden. Asyl ist ein Recht - genauer gesagt: ein Recht, das in unserem Grundgesetz verankert ist - und keine Gnade. Es geht nicht darum, die Flüchtlinge "hereinzulassen", sondern darum, sicherzustellen, dass sie ein ordentliches Asylprüfungsverfahren bekommen und währenddessen nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern darben müssen.

Bild: fdp

NADJA HIRSCH, 32, sitzt seit 2009 für die FDP im Europäischen Parlament in Straßburg. Sie ist dort parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Partei und liberale Berichterstatterin für das Asylpaket. Sie lebt in München.

Die Freiheit der Flüchtlinge

Bereits 1954 trat die Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft. Sie war aus dem Gedanken geboren, Menschen, die verfolgt werden, die Chance auf ein neues Leben zu ermöglichen. Diese Menschen brauchen ihre "Lebenschance". Das verstand der liberale Soziologe Lord Dahrendorf einst unter Freiheit: In der Gesellschaft muss jeder die Chance haben, sein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe verwirklichen zu können. Deshalb muss jeder, der einen Antrag auf Asyl stellt, auch sicher sein, dass dieser in einem ordentlichen Verfahren geprüft wird. Wir können Menschen nicht einfach wegschicken, weil sie wahrscheinlich "nur" Wirtschaftsflüchtlinge sind. Genau hier stehen wir bei dem aktuellen Problem in Lampedusa: Entweder alle Mitgliedstaaten der EU unterstützen Italien - oder wir akzeptieren die Aussetzung des Asylrechts.

Die Gemeinschaft ist in der Pflicht. Daher muss angesichts der Notlage auch Deutschland unkompliziert helfen und anbieten, Asylsuchende aufzunehmen, um dann ein ordentliches Verfahren zu gewährleisten. Dies würde keineswegs die Integrationskraft unseres Landes überfordern.

Die eigentliche Debatte aber muss über den gegenwärtigen Stand der sogenannten Dublin-Verordnung geführt werden: Sie schreibt vor, dass ein Asylsuchender seinen Antrag in dem Land stellen muss, in dem er angekommen ist. Eine solche Regelung ist unter heutigen Gesichtspunkten nicht mehr haltbar. Werfen wir einen Blick auf die Zahlen: 2009 wurden in der gesamten EU 260.730 Asylbewerber registriert. Davon trugen in absoluten Zahlen Deutschland, Frankreich und Großbritannien die meisten Bewerber. Sieht man sich aber das Verhältnis von Asylbewerbern zur Einwohnerzahl an, dann stellt man fest, dass in Griechenland auf 1 Million Einwohner 1.415 Asylsuchende kommen, in Zypern 3.345, in Malta gar 5.765. Demgegenüber sprechen wir in Frankreich von 740 und in Deutschland von 390!

Asyl nur in Süddeutschland?

Geht man einen Schritt weiter und schaut auf die Anerkennungszahlen, wird schnell klar, dass wir innerhalb der EU dringend einen neuen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge brauchen. Insgesamt wurden 26,9 Prozent aller in der EU gestellten Asylanträge positiv beschieden: In Griechenland 1,1 Prozent, in Deutschland 36,4 Prozent und Italien 38,3 Prozent.

Die Innenminister der EU-Staaten müssen schleunigst über Unterstützung der südlichen Länder sprechen. Die Kombination eines Verteilungsschlüssels und direkter Hilfen vor Ort kann ein mögliches Szenario sein. Deutschland könnte eine Vorreiterrolle übernehmen, denn hier gibt es bereits einen bundesinternen Verteilungsschlüssel. Man stelle sich vor, in Deutschland müssten ausschließlich die südöstlich gelegenen Bundesländer wie Bayern und Sachsen Asylsuchende aufnehmen - schließlich kommen diese meist über Osteuropa in unser Land: das Geschrei wäre groß, die Akzeptanz gering.

Arabischer "Wind of Change"

Die Debatte sollte deshalb weniger emotional geführt werden. Der arabische "Wind of Change" sollte auch uns Mut machen, ein grundlegendes Problem anzupacken, das die Zukunft Europas betrifft. Wir sollten die Diskussion nicht auf die Frage reduzieren, ob die Flüchtlinge tatsächlich "Wirtschaftsflüchtlinge" oder doch politische Flüchtlinge sind.

Lange haben sich Deutschland und die EU gegenüber Menschen aus Drittstaaten abgeschottet. Durch den demografischen Wandel werden Fachkräfte weniger. Langsam setzt ein Umdenken ein. Wir sind auf qualifizierte Zuwanderung angewiesen. Die Tunesier, die jetzt auf Lampedusa sitzen, sind zum großen Teil gut ausgebildete, oft studierte, zielstrebige junge Menschen. Auch Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge sind oft gut qualifiziert. Der Arbeitsmarkt stellt den schnellsten und nachhaltigsten Weg der Integration in eine Gesellschaft dar. Deshalb macht es Sinn, diesen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen beziehungsweise eine konsequente Anerkennung von Abschlüssen und Möglichkeiten der modularen Nachqualifizierung voranzutreiben.

Zudem darf die Politik die Augen vor der Frage der Illegalen, der "Menschen ohne Papiere", nicht verschließen. Zehntausende leben und arbeiten bereits heute schon in Deutschland, vor allem in haushaltsnahen und pflegenden Jobs. In anderen Ländern wie Spanien würden einige Branchen komplett zusammenbrechen, gäbe es diese Menschen nicht.

Es ist an der Zeit, ehrlich mit dem Thema der Asylsuchenden, der Flüchtlinge und der "illegalen" Wirtschaftsflüchtlinge umzugehen. Es ist erschreckend, wie manche Politiker verunsicherte Bürger für ihre populistischen Parolen instrumentalisieren. So werden Ängste vor einer neuen "Asylschwemme" geschürt, um sich dann als Garant der Abwehr zu stilisieren.

Die Frage muss lauten: Wie können wir Menschen eine "Lebenschance" bieten: entweder auf europäischem Boden - oder auch in ihren Heimatländern, indem wir dort den Aufbau von Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft unterstützen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

9 Kommentare

 / 
  • H
    hto

    "Lehren aus Lampedusa" - wünschen wir uns, der Flüchtlingstrom möge sein wie eine Medusa, damit die Diktatur des Kapitals so oder so fällt!?

  • H
    hto

    Welcher Arbeitsmarkt? Hat die Globalisierung der Blödheit etwa einen vergessen?

     

    Für die "Dienstleistungsgesellschaft":

     

    "Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit." (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • C
    Coogy

    Frau Hirsch behauptet, Italien sei mit der Aufnahme der 5000 Tunesier überfordert. Warum ist sie als Europaabgeordnete so schlecht informiert?

    Italien schiebt, anders als Deutschland, Frankreich, Spanien u.a.m., rigoros ab. In Italien leben ganze 800.000 Migranten. In Deutschland sind es bereits über 15 Mio, davon nutzen ca. 5 Mio unsere Sozialsysteme...

    Wie kann, Frau Hirsch, Italien mit 5000 neuen Migranten überfordert sein? Sie werden ohnehin in spätestens 6 Monaten alle wieder in Tunesien sein.

  • W
    WaltaKa

    Nur mal so, was 'man' weiß: Eurostat schätzt, dass im Mai 2010 in der EU27 insgesamt 23,127 Millionen Männer und Frauen arbeitslos waren, davon 15,789 Millionen im Euroraum. Gegenüber Mai 2009 ist die Zahl der Arbeitslosen um 1,801 Millionen in der EU27 und um 0,991 Millionen im Euroraum gestiegen. Die offizielle bereinigte Arbeitslosenzahl für D: ca. 3 Millionen. Wobei 100tausende, die zu privaten Arbeitsvermittlern verschoben wurden, nicht mitzählen. Ebenfalls werden 1€-Jobber oder Menschen in Arbeitsamtkursen nicht berücksichtigt. usw. Ca. 4,7 Millionen in Hartz 4 sollen eigentlich Arbeitsfähig sein. Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland: 8-9%. 1,5 Millionen junge Menschen in D zw. 20 und 29 sind ohne Ausbildung. usw.

  • GS
    Gundolf Siebeke

    Hat die werte Autorin mitbekommen, wer da aus Tunesien die 130km über's Meer nach Lampedusa gekommen ist? Anscheinend nicht!

    Es sind die mittleren und unteren Schergen, die Geheimdienstler, die korrupten und gewalttätigen Polizisten und Funktionäre des alten Regimes, die türmen mussten, weil es ihnen nun an den Kragen zu gehen droht. Sie klauten oder kauften die Fischerboote, die nun zur Ernährung der Tunesier fehlen.

    Nicht gekommen sind die Kinder, Frauen, Alten und Kranken, also die Menschen, die wirklich unsere Solidarität und Hilfe benötigen.

    Ist die Autorin bereit diese Menschen nicht mehr auszublenden und in Tunesien zuerst zu helfen?

    In Tunesien herrscht aber kein Hunger. In Tunesien gibt es derzeit keine politisch Verfolgten (das werden die Islamisten schon wieder einführen, sobald sie in "demokratischen" Wahlen an die Macht gekommen sind...).

     

    Ist Frau Hirsch nicht klar, dass wenn die "nur" 5000 Türmer in Europa bleiben können, damit die nächste Welle auf Europa ausgelöst wird? Wo ist denn bitte die Grenze? Ralf Dahrendorf, so scharf sein Verstand war,hat mir darauf in öffentlicher Diskussion keine Antwort geben können. Nur ein mageres "ich sehe das anders" konnte er dazu sagen.

     

    Noch eines: Eine Staatsbürgerschaft verpflichtet! Wenn ich Tunesier bin, dann will ich das Beste für mein Land und bin bereit alles zu geben. Nur durch selbstlosen Einsatz einiger wurde unser Land zur Demokratie.

     

    Für eine Demokratie braucht es mehr als freie Wahlen. Auch dies wird gerne ausgeblendet. In Algerien gab es einmal freie Wahlen. Es wurde Islamisten gewählt, das Militär übernahm sofort die Macht.

    Gleiches wird in Ägypten passieren. Auf dem Tahrierplatz wollten Hunderttausende bereits am liebsten gewaltbereite Islamisten hören. Soviel en passant zur in Europa beliebten Trennung von Islam und Islamisten.

    Die Autorin blendet die Realität einfach aus. Das kann sie privat tun und einen Tunesier aufnehmen. Als Politikerin darf sie dies nicht. Insbesondere Deutschland ist zur inneren Stabilität verpflichtet. Frau Hirsch ist dies keine Überlegung wert.

  • I
    ich

    Welche "Lebenschancen" in West- oder Nordeuropa haben diese Menschen denn? Wie sich die Folgen der Einwanderung von bildungsfernen und teilweise religiös und gesellschaftlich vor 1000 Jahren stehengebliebenen Ungelernten und nur mangelhaft Ausgebildeten für die jeweiligen Sozialsysteme und Kriminalitätsstatistiken auswirken, kann seit Jahrzehnten verfolgt werden.

     

    Mehr als die Beschäftigung in Niedriglohnbereichen, dort einfachste Tätigkeiten ausführend, ist für diese Zuwander logisch nachvollziehbar unmöglich. Drecksarbeit für faule und wohlstandsgewöhnte Einheimische, das ist und bleibt rassistisch.

     

    Also lieber die Wirtschaft und Ausbildung in den dortigen Ländern nachhaltig stärken als hoffnungslose Einwanderung zu forcieren!

  • N
    Ndege

    NOCH würde eine Aufnahme der Flüchtlinge die europäische Integrationskraft nicht überfordern, aber wenn das so weitergeht, dann noch irgendwann Klimaflüchtlinge hinzukommen und man die hohe Geburtenrate der bereits in Deutschland lebenden Moslems betrachtet (bei Türken z.B. 2,2 - Deutlich höher als bei Autochtonen), so läuft dies langfristig auf bosnische Zustände hinaus.

     

    Ob diese Flüchtlinge gut ausgebildet sind, wie Frau Hirsch dies behauptet, ist auch eher fraglich. Was ist ein tunesischer Hochschulsabschluss denn wert? Wenn wir tunesische Universitätsabschlüsse genauso behandeln wie deutsche, dann läuft das auf ein Absenken des Niveaus heraus.

     

    Auch mag es sein, dass diese Leute zum jetzigen Zeitpunkt keine bösen Absichten haben, doch sobald sie hier sind und merken, dass hier nicht der Garten Eden ist, den sie sich erträumt haben, enden die meisten doch in Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Und so werden die Straßen besonders in den Großstädten noch unsicherer, die Sozialsysteme und damit die Staatsfinanzen noch mehr belastet, etc.

     

    All dies missachtet Frau Hirsch geradezu sträflich.

  • HD
    hans dieter

    Nadja Hirsch ganz im Dienst der Globalisten.

    Ja, wir lassen die Wirtschaftsflüchtlinge aus allen Herren Länder nach Europa rein. Im Herkunftsland haben die Habenichtse nix auf die Reihe bekommen. Hier wird denen das auch nicht gelingen.

    Wir importieren keine Facharbeiterasylanten, sondern zukünftige Kriminelle und/oder Lohndrücker, welche das Lohnniveau im Aufnahmeland, allein durch ihr massiges auftreten, ins bodenlose drücken werden. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt wird sich die Hände ob der vielen billien Arbeitskräfte reiben, und die taz freut sich auch noch über das absinken unseres hart erarbeitetn Lebensstandarts auf ein nordafrikanisches Niveau...

    Schade, dass die Dame NUR die Rechte der Wirtschaftsflüchtigen betrachtet, nicht aber dass die aufnehmenden Länder AUCH eigene rechte gegenüber ihren Bürgern haben. Und dass ich die eigenen Bürger in den Hartz4 Hungertod schicke, nur um dem arbeitsscheuen Gesindel eine Lebenschance biete, welche ich den eigenen Bürgern dank der politisch gewollten Lohndrückerei vorenthalte, will mir irgend wie nicht in den Kopf...

  • IT
    in transit

    Sagen sie´s doch direkt Frau Hirsch, die FDP will wieder billigere Arbeits-/Fachkräfte um das Lohndumping nach unten weiter zu forcieren.

    Um die Menschen geht es ihnen doch gar nicht.