Debatte Boykott der Europawahl: Tabu Wahlverweigerung
Ein Demokrat soll wählen gehen. Was aber tut er, wenn er mit seinem Kreuzchen Rahmenbedingungen absegnet, die undemokratisch sind?
N ur ein wählender Wähler ist ein guter Wähler - jedenfalls aus der Sicht der Politiker, die regieren wollen. Denn aus dem Wählerauftrag beziehen sie die Legitimation, Gesetze zu beschließen und damit in das Leben jedes Einzelnen einzugreifen.
Deshalb betont das Europaparlament, das gegenüber den beiden anderen EU-Institutionen an chronischem Minderwertigkeitsgefühl leidet, so gern sein "Alleinstellungsmerkmal": Es hat zwar noch immer weniger Macht als der Rat der Regierungschefs. Es darf keine Gesetze vorschlagen wie die EU-Kommission. Doch es ist die einzige demokratisch gewählte europäische Institution.
Das ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Es ist aber auch ein Vorschusskredit, der eingelöst werden muss. 375 Millionen Wahlberechtigte können per Briefwahl oder zwischen dem 4. und dem 7. Juni persönlich in der gesamten Europäischen Union ihr Kreuz machen. In Deutschland können sie zwischen 31 verschiedenen Parteien wählen, von denen fünf eine realistische Chance haben, ins neue EU-Parlament einzuziehen. Doch ganz egal, ob eine Mehrheit den Rechten, den Sozen, den Linken, den Grünen oder den Liberalen ihr Vertrauen schenkt - an der fundamentalen Misere, in der sich die EU derzeit befindet, wird das nichts ändern.
Die Europäische Union krankt an zwei grundlegenden Problemen, die sie lähmen und ihre politischen Entscheidungsprozesse willkürlich und unvermittelbar machen. Das eine ist eine viel zu schnell verlaufene, weder in der alten EU noch in den Beitrittsländern verarbeitete Erweiterung. Das zweite ist ein zerstückelter, politisch zerredeter und bis heute nicht umgesetzter neuer Verfassungsvertrag. In beiden Fragen hätte das EU-Parlament in der vergangenen Legislaturperiode die Chance gehabt, die Notbremse zu ziehen und sich seiner Rolle als einzig vom Wähler legitimierte Institution würdig zu erweisen.
Eine schweigende Mehrheit im Parlament hielt weder Polen noch Tschechien für reif, der EU beizutreten. Viele warnten, man werde sich mit Zypern den schwelenden Konflikt des griechischen Landesteils mit der Türkei ins Haus holen. Gegen die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens wurden in Anhörungen und Debatten unzählige Fakten und Argumente zusammengetragen. Dennoch segnete eine Mehrheit die jüngste Erweiterungsrunde ab - auf Druck der nationalen Regierungen, aus Furcht vor einem Skandal, letztlich aus mangelndem Selbstbewusstsein und fehlender Courage.
Die Europäische Verfassung hatten Abgeordnete aller Fraktionen mit erarbeitet. Das Ergebnis wurde von einer überwältigenden Mehrheit des Hohen Hauses getragen. Dennoch gab es keinen Aufschrei, als sich die Regierungen über den Text beugten und einige Kernpassagen wieder strichen. Das Europaparlament stimmte zähneknirschend zu - wie es das schon beim ungeliebten Vertrag von Nizza getan hatte. Die Abgeordneten begründeten ihre Entscheidung damit, die Reform nicht verzögern oder gefährden zu wollen. Schließlich sollte sie vor der Erweiterung in Kraft getreten sein. Wie wir inzwischen wissen, hat das Duckmäusertum keine Früchte getragen.
Natürlich ist es polemisch, die Arbeit der 783 Abgeordneten auf diese beiden Entscheidungen zu verkürzen. Vor allem in der Umweltpolitik war die Mehrheit der Parlamentarier in den vergangenen fünf Jahren oft fortschrittlicher als der Rat der Regierungen und konnte gemeinsam mit der EU-Kommission Verbesserungen in der Gesetzgebung durchsetzen. Doch die tiefe Kluft zwischen den Bürgern und ihren europäischen Institutionen verringert sich nicht durch ein paar strengere Grenzwerte und eine bessere Kontrolle giftiger Chemikalien. In der Kernaufgabe, Strukturprobleme beim Namen zu nennen und das Demokratiedefizit zu verringern, hat das Parlament versagt.
Nicht zuletzt die 99 deutschen Abgeordneten, die größte nationale Gruppe im EP, haben dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Die Sozialdemokraten fühlten sich der großen Koalition in Berlin so sehr zu Loyalität verpflichtet, dass sie sich bei ihren Kernthemen wegducken mussten. Als der deutsche sozialdemokratische Arbeitsminister Olaf Scholz im Rat dagegen stimmte, dass menschenwürdige Höchstarbeitszeiten in der Union eingeführt werden, war von seinen deutschen SPD-Kollegen im EU-Parlament kein kritisches Wort darüber zu hören.
Als sich Horst Seehofer in München zu seinem neuen polternden EU-kritischen Stil entschloss, um die CSU bei der Europawahl über die Fünfprozenthürde zu heben, taten es ihm die CSU-Abgeordneten im Europaparlament eifrig nach. Und die Linke strafte ihre EU-erfahrenen Abgeordneten dafür ab, dass sie nicht in die populistische Leier vom europäischen Militärstaat einstimmen wollten und den neuen EU-Vertrag als wichtigen Fortschritt ansehen.
Man könnte nun einwenden, dass es ja noch die Liberalen, die Grünen und die CDU gibt, die sich schon deshalb treu geblieben sind, weil sie in Brüssel dasselbe Lied singen können wie in Berlin. Aber darum geht es nicht. Jeder Wähler, der Anfang Juni brav ins Wahllokal geht und sein Kreuzchen macht, signalisiert damit stillschweigend sein Einverständnis mit Zuständen, die jeder Demokrat als unhaltbar betrachten muss. Gewählt wird nach den Regeln des Vertrags von Nizza. Sollte sich irgendwann danach der Lissabon-Vertrag mit ein paar weiteren Zusatzprotokollen doch noch hinmauscheln lassen, müsste nachträglich die Zusammensetzung des Parlaments und der EU-Kommission geändert werden. Die Europäer aber würden dazu kein zweites Mal gefragt.
Das ist keine juristische Formalie. Die Wähler werden als demokratisches Feigenblatt missbraucht. Als sie diese Rolle bei der Wahl 1999 zum ersten Mal verweigerten und die Wahlbeteiligung von 60 auf 45,2 Prozent sank, beriefen die Regierungen einen Verfassungskonvent. Dessen Ergebnisse haben sie inzwischen demontiert. Der einzig wirkungsvolle Protest gegen die weiterhin uneingelösten Versprechen von Demokratisierung besteht infolgedessen darin, diese Wahl ganz bewusst zu boykottieren.
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