Debatte Bewegungen: Die Graswurzler sind da

Die Krise hat auch Potenzial: Immer mehr Leute haben es satt, sich „Sachzwängen“ zu unterwerfen. Sie beginnen, gemeinsam verantwortlich zu wirtschaften.

Das gegenwärtige Wirtschafts- und Politikmodell hat keine Zukunft: Es gibt heute viel mehr Geld als reale Werte, der Kampf um Ressourcen spitzt sich zu und die Spaltung zwischen Arm und Reich wird immer tiefer.

Politiker „fahren auf Sicht“ durch den dichten Nebel der Finanzmärkte und verhandeln jahrelang auf internationalen Konferenzen, ohne dass die Bankenmacht gebrochen, der Hunger reduziert, die Atmosphäre entlastet oder der Artenschwund gestoppt wurde. Versuche, der Misere durch technische Lösungen beizukommen, sind gescheitert.

Das Einzige, was den Crash abwenden kann, ist eine Kehrtwende – weg von den aus gnadenlosem Wettbewerb hervorgegangenen Weltkonzernen mit ihren Großtechniken und globalen Einheitsangeboten – hin zu einer ökologisch und regional angepassten, vielseitigen Ökonomie, die alle Menschen einschließt und nicht nur die fitten, jungen und reichen.

Boom der Graswurzler

ANNETTE JENSEN ist freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr „Wir steigern das Bruttosozialglück. Von Menschen, die anders wirtschaften und besser leben“ (Herder). Für „Futurzwei“ schreibt sie „Geschichten des Gelingens“.

Die Krise bietet dafür gute Chancen: Immer mehr Menschen haben es satt, sich undurchschaubaren „Sachzwängen“ zu fügen. Noch wichtiger als Protestbewegungen wie Occupy sind Graswurzelprojekte, die vielerorts und dennoch fast unbemerkt sprießen. Immer geht es darum, die Dinge des Alltags wieder stärker in die Hand zu bekommen.

Die Beteiligten möchten wissen, wo herkommt, was sie essen, wollen ihre Energie selbst erzeugen und verantworten können, was mit ihrem Ersparten passiert: Bauern und Verbraucher schließen sich zu Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften zusammen, in vielen Städten entstehen kollektive Gemüsegärten, Solargenossenschaften errichten Fotovoltaikanlagen auf Schuldächern.

Kommunen auf weit mehr als einem Viertel der deutschen Landesfläche haben sich das Ziel gesetzt, schnellstmöglich 100-Prozent-Erneuerbare-Energien-Regionen zu werden. Kreditinstitute ohne Spekulationsgeschäfte wie die GLS- und die Umweltbank boomen, in 65 Orten gibt es Regionalwährungen oder sie werden gerade vorbereitet.

Die Projekte sind oft kleinschrittig, technisch unaufwändig und fehlertolerant. Interessant dabei ist, dass die Aktivisten nicht wie in den 70er und 80er Jahren allein aus einer linksalternativen Ecke kommen, sondern ebenso in CSU-Gemeinden wie Wildpoldsried im Allgäu oder in den Chefzimmern mittelständischer Schuh-, Textil- und Chemiefabriken oder eines Vier-Sterne-Hotels zu finden sind. Verzicht gehört hier nicht zum Vokabular.

Vielmehr haben die Aktivitäten oft etwas ausgesprochen Lustvolles; schließlich sind sie selbst gewählt und häufig mit Gemeinschaftserlebnissen verbunden. Die Beteiligten wollen kein Modell sein für den Rest der Welt, sondern etwas vor Ort gestalten. Zwar stützen Infrastruktur, globale Handelsverträge und politische Institutionen die hergebrachte Ordnung. Trotzdem hat die neue Graswurzelbewegung entscheidende Vorteile.

Klein und dezentral

Zum einen finden inzwischen viele, dass die gegenwärtige Weltordnung ungerecht, undemokratisch und ökologisch fatal ist und es „so nicht weitergehen kann“ – und nichts überzeugt mehr als lebendige Beispiele, dass es auch anders funktioniert. Die Graswurzler bieten zum anderen echte Praxis und positive Erfahrungen, während die weltweiten Markenfirmen teure Events inszenieren und damit doch nur Pseudoerlebnisse erzeugen.

Außerdem fließen die Einnahmen der Vor-Ort-Ökonomie nicht in ferne Konzernzentralen, sondern bleiben in der Region und schaffen dort – oft sogar eine ganze Menge – Jobs. Das alles macht sie attraktiv und wird zur Verbreitung solcher Ansätze beitragen.

Auch zukunftsrelevante Techniken geben Rückenwind. Erneuerbare Energien sind strukturell dezentral und liefern in Deutschland schon mehr als 20 Prozent des Stroms – Tendenz rasch steigend. Inzwischen ist klar, dass die Republik hervorragend ohne Großerzeuger auskommen kann, wenn das Netz entsprechend umgebaut wird. Hier steht jetzt auf politischer Ebene der entscheidende Machtkampf an.

Die Digitalisierung hat ebenfalls das Potenzial, die Dominanz der Großen zu untertunneln. Schließlich kann man Dateien massenhaft anderen Nutzern überlassen und zugleich selbst behalten. Der Versuch von Microsoft und Co, ihre Programme hinter einer Maschinensprache zu verstecken und deren Entschlüsselung unter Strafe zu stellen, ist ein vergeblicher Abwehrkampf.

Neu: Die Fablabs kommen

Längst gibt es Software wie Linux, die von jedem kostenlos genutzt werden kann. Ihre Qualität übersteigt die der Konzerne bei weitem, denn in der Open-Source-Szene gehört es zur Kultur und zum guten Stil, entdeckte Fehler zu beheben. Kooperation und Spaß sind auch hier die entscheidenden Faktoren – und nicht Geld. Der die Wirtschaftswissenschaften dominierende Homo oeconomicus, der immer nur den größten persönlichen Gewinn im Auge hat, ist tot – denn das Leben selbst hat viel größere Reichtümer zu bieten.

Schon schwappt dieser Trend des Teilens und Weitergebens von der Software in die Produktionssphäre über: In Fablabs – Gemeinschaftswerkstätten mit Hightechmaschinen – können Laien frei zugängliche Daten nutzen und damit bauen, was sie brauchen. Diese Entwicklung ist zwar noch ganz am Anfang. Doch auch hier zeichnet sich ein Bruch ab mit dem dominanten Wirtschaftsmodell, in dem Hersteller durch Werbung immer neuen Bedarf erzeugen und so die Wachstumsmaschine permanent anheizen.

Und wie könnte das große Ganze aussehen? Oberster Orientierungspunkt muss der Erhalt einer intakten Umwelt sein. Das aber bedeutet keineswegs automatisch Verzicht. Die Natur hat es schließlich auch geschafft, aus dem immer selben Material immer Vielfältigeres herzustellen – und das ganz ohne Müll.

Eine Imitation dieser natürlichen Produktion bedeutet, regional unterschiedliche Lösungen zu finden, mit vielfältigen Vernetzungen und Nutzungskaskaden: Was für den einen Abfall ist, ist für den Nächsten Rohstoff. Beispiele, wie das gehen kann, gibt es längst. Wenn 15 Prozent einer Bevölkerung in eine Richtung marschieren, ist ein grundlegender Wandel möglich. Auf geht’s!

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