Debatte Bewegung: Die europäische Revolte
Seit 1968 war Europa nicht mehr von solch einer Unruhe ergriffen. Die wachsende Ungleichheit beschädigt das Vertrauen in die Demokratie.
D ie demokratische Revolte in Europa dringt immer weiter ins Zentrum vor. In Großbritannien protestierten in der vergangenen Woche Hunderttausende Lehrer, Zollbeamte und Justizangestellte mit einem landesweiten Streik gegen die Sparpläne der Regierung für den öffentlichen Dienst.
In zahlreichen europäischen Staaten wurden in den letzten Monaten die schärfsten Sozialkürzungen seit dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen, Massendemonstrationen und Generalstreiks von Portugal bis Griechenland und Irland bis Italien sind die Folge.
Deutschland bildet hier, vor allem wegen seiner relativen ökonomischen Stabilität, trotz Stuttgart 21 und einer neuen Anti-Atom-Bewegung, noch die große Ausnahme.
Noch immer blickt Europa fasziniert auf den Umbruch in der arabischen Welt. Doch die Bedeutung der neuen demokratischen Revolte in Europa wird verkannt. Auch wenn es sich hier nicht um eine revolutionäre Situation handelt, sind die jüngsten Proteste keine episodischen, partikulare Eruptionen, sondern Zeichen eines angestauten Unbehagens und einer tiefen Entfremdung - nicht nur von der repräsentativen Demokratie, sondern vom gesamten Projekt der liberalen Moderne.
OLIVER NACHTWEY ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Er hat seine Dissertation über "Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie" geschrieben und veröffentlicht gelegentlich in der taz, der FAS oder der Welt.
Bei seinem hier veröffentlichten Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Artikels aus den Blättern für deutsche und internationale Politik.
Geburt einer neuen Agora
In der europäischen Revolte entsteht ein neues Muster unkonventioneller, demokratischer Politik. Breiter, akzeptierter ziviler Ungehorsam, Wutbürger-Proteste und politische Streiks sprießen aus dem Boden. Und inspiriert von den Protesten auf dem Tahrirplatz in Kairo, werden öffentliche Orte zu einer neuen Agora, einem Ort neuer demokratischer Öffentlichkeit.
In der neuen Agora wird friedlich demonstriert, kampiert, am offenen Mikro diskutiert, getwittert und gelacht - schöner könnte kein Demokratieunterricht sein.
Paradoxerweise geht die neue demokratische Politik an den etablierten linken Akteuren und Parteien zumeist vorbei. Diese werden von den Protestierenden weitgehend als Teil des Establishments und damit als Teil des Problems wahrgenommen.
Das ist nicht überall der Fall - in Großbritannien spielen Gewerkschaften und linke Gruppen eine wichtige Rolle für die Proteste. In Griechenland, Spanien und Portugal hingegen werden sie an den Rand gedrängt, dafür gewinnen - wie in Ägypten - soziale Netzwerke wie Facebook an Bedeutung.
Die Gesellschaften Europas waren in den vergangenen Jahrzehnten auch deshalb so stabil, weil sie sozialen Aufstieg und soziale Integration ermöglichten.
Diese Entwicklungsrichtung hat sich heute umgekehrt. Aus den Gesellschaften des Aufstiegs sind Gesellschaften des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.
In fast allen OECD-Ländern ist in den letzten zwei Dekaden die Ungleichheit erheblich gestiegen. Die westliche, liberal-soziale Moderne erodiert somit genau an der Stelle, an der sie in den letzten 50 Jahren so erfolgreich war: der freien Selbstbestimmung des Individuums.
Erst der Sozialstaat der Nachkriegsjahre als "politischer Inhalt der Massendemokratie" (Jürgen Habermas) hatte den Staatsbürgern die positive Freiheit verliehen, individuelles Handeln unter Bedingungen der sozialen Absicherung zu entfalten.
Liberal-regressive Moderne
Diese liberal-soziale Moderne ist nun massiv gefährdet. Auf der einen Seite schreitet die "reflexive Modernisierung" (Ulrich Beck) weiter voran: die Gesellschaften werden emanzipierter und liberaler, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern und zumindest partiell auch zwischen Inländern und hochqualifizierten Migranten nimmt zu.
Auf der anderen Seite wachsen Ungleichheit, Klassendistinktion und Illiberalität im Umgang mit Unterklassen und Migranten. Man könnte sagen, dass wir in eine Epoche der liberal-regressiven Moderne eingetreten sind, welche die liberal-soziale Moderne ablöst.
Liberal-regressive Modernisierung bedeutet vor allem eine Modifizierung - präziser gesagt: eine wirtschaftsliberale Reduzierung - der sozialen Staatsbürgerrechte durch die sogenannte aktivierende Sozialpolitik und die Privatisierung der Gemeinschaftsgüter.
Abbau der Bürgerrechte
Auch wenn man heute nicht wie in den Armenhäusern des 18. Jahrhunderts alle zivilen Rechte inklusive des Wahlrechtes verliert: Der Abbau der sozialen Staatsbürgerrechte reicht weit in die zivilen und bürgerlichen Rechte hinein. Für Transferempfänger gelten weder Privatsphäre noch Bankgeheimnis.
In Portugal etwa ist Letzteres für Transferempfänger jüngst komplett aufgehoben worden. Die große Errungenschaft der sozialen Moderne, die Ablösung der Staatsbürgerrechte von der Klassenposition, wird auf diese Weise stückweise wieder kassiert.
Die steigende Ungleichheit in der liberal-regressiven Moderne führt nicht nur zu nachlassender Wahlbeteiligung und asymmetrischer politischer Beteiligung zu Ungunsten der sozial Schwachen, sondern auch zum immer stärkerem Verlust an Vertrauen in die Institutionen der Demokratie. Je stärker die Ungleichheit, desto größer das Misstrauen gegenüber den Parteien.
Erosion der Demokratie
Europa ist in eine seit 1968 nicht mehr gekannte politische Unruhe geraten. Sicherlich, noch sind die westlichen Länder weitaus stärker demokratisch legitimiert als die arabischen Regime. Das aber muss nicht auf Dauer so bleiben.
Man stelle sich nur vor, wenn der Machthaber der reichste Mann des Landes ist und die Medien kontrolliert. Im Parlament sitzen zwar auch ein paar echte Demokraten, aber rechtskonservative, korrupte Höflinge bilden die Mehrheit.
Der Machthaber hat Kontakte zur Schattenwirtschaft, hält eine demokratische Justiz für überflüssig und schert sich nicht um die öffentliche Moral. Für mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung ist es unmöglich, die monatlichen Ausgaben zu bestreiten. 40 Prozent der Familien haben Probleme, den Kredit für die Wohnung abzubezahlen. Die monatliche Miete bringt etwa 38 Prozent der Bevölkerung in Bedrängnis.
Läge dieses Land in Arabien, so hätten wir sicher vollstes Verständnis, wenn die Menschen dort auf die Straße gingen und eine Revolte begönnen. Doch heikel für Europa wird es aber dann, wenn es sich - wie in diesem Fall - um Italien handelt.
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