Debatte Baskenland: Deutscher Spanien-Mythos
In Teilen der deutschen Linken werden baskische Unabhängigkeitsbestrebungen mystifiziert. Doch der Kampf von ETA und Co. ist mit den linken Werten unvereinbar.
A m Ende der Franco-Diktatur gab es zwei Momente, welche die Aufmerksamkeit der internationalen öffentlichen Meinung auf das Baskenland richteten. Der eine war 1970, als 16 Mitglieder der bewaffneten Organisation ETA ('Baskenland und Freiheit') insgesamt zu neun Todesstrafen und 519 Jahre Haft verurteilt wurden. Die zivile und diplomatische Mobilisierung im In- und Ausland zwang das Regime, die Todesstrafen umzuwandeln. Der zweite Höhepunkt kam 5 Jahre danach, als 5 Personen, darunter zwei Mitglieder der ETA, hingerichtet wurden. Beide Male entstand europaweit, auch in Deutschland, eine übernationale Welle der Solidarität mit den Mitgliedern einer Organisation, die einige Jahre zuvor in ihrem Kampf gegen die Diktatur den Weg der Gewalt eingeschlagen hatte.
Jesús Casquete ist Professor für Geschichte der sozialen Bewegungen, Universität des Baskenlandes. Von ihm erschien u. a. die Studie "From Imagination to Visualization: Protest Rituals in the Basque Country" beim Wissenschaftszentrum Berlin.
Über drei Jahrzehnte später, nach einem Übergang zur Demokratie, der trotz seiner Schattenseiten als Vorbild für andere Länder in Lateinamerika und Osteuropa gedient hat, sieht die politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation radikal anders aus. Von einem zentralistischen Regime, das Spanien als "einheitlich, groß und frei" betrachtete, ist man übergegangen zu einem dezentralisierten Staat, in dem die autonomen Regionen über Kompetenzen verfügen, die denen der deutschen Länder wenig nachstehen. Oder diese sogar übertreffen: das Baskenland ist die europäische Region mit dem höchsten Grad an Eigenständigkeit. Von seinen Institutionen hängen die Bildung, das öffentliche Gesundheitswesen, die Infrastrukturen und die innere Sicherheit ab. Außerdem treibt das Land die Steuern ein, von denen es einen Teil (etwa 6% insgesamt) jährlich dem Staat überweist, um jene Kompetenzen zu finanzieren, die nicht übertragen wurden. Besondere Erwähnung verdient die Entwicklung des bedeutendsten Identifikationsmerkmals des Baskenlandes: dem euskera. Dem gesellschaftlichen und institutionellen Einsatz für den Erhalt dieser Sprache, die vor dreißig Jahren nur von 20% der Einwohner fließend gesprochen wurde, ist es zu verdanken, dass sie nun von einem Drittel der Bevölkerung beherrscht wird. Das Erziehungssystem hat bei dieser Erholung eine Schlüsselrolle gespielt: heute verwenden 69% der Kinder bei ihrer Einschulung das Baskische als Gebrauchssprache.
Objektive und unleugbare Wirklichkeiten wie diese scheinen aber nicht auszureichen, denn in einigen Bollwerken der deutschen Linke wird ein Bild der spanischen Demokratie und des Baskenlandes vermittelt, das noch in der Franco-Zeit verankert ist. Ich habe in Deutschland Veranstaltungen zur Unterstützung politischer Gefangener und zur Solidarität mit den baskischen Ansprüchen besucht, in denen ein ebenso trostloses wie uninformiertes Panorama der Situation im Baskenland gezeichnet wurde: die baskische Sprache werde verfolgt, Menschenrechte würden täglich verletzt, politische Dissidenz werde mit Haft bestraft, usw. Das sind verkrampfte Behauptungen, die eine gründliche Unkenntnis der Entwicklung verraten, welche in den letzten Jahren die spanische und die baskische Gesellschaft erfahren haben. Solche Vorstellungen halten sich nicht; sie wurden von jenen diktiert, welchen etwas von unbeugsamen Basken vorschwärmt, die mit erhobener Faust für ein unabhängiges und sozialistisches Baskenland kämpfen. Es ist ein Musterbeispiel für ein "Oxymoron der Zeichen" wenn sie diese vom Rotfrontkämpferbund erfundene Geste zum physischen und symbolischen Kampf gegen den Nazismus in den Straßen der Weimarer Republik mit einem Lied verbinden, das vom Blutopfer für die Verteidigung der baskischen Heimat spricht. Das Baskenland über alles.
Doch besorgniserregender als die mangelhafte Aktualisierung gewisser Sektoren der außerparlamentarischen deutschen Linke ist die Tatsache, dass sich auch die institutionalisierte Linke an längst veraltete Stereotypen klammert. Dazu kann man ein Beispiel aus jüngster Zeit heranziehen, das diese anachronistische Vision des Baskenlandes vor Augen führt. Anfang November dieses Jahres fand dort das erste Treffen des "Gernika-Netzwerks für die Selbstbestimmung" statt, dessen Ziel es ist, "das Recht Euskal Herrias zur Selbstbestimmung in unterschiedlichen internationalen Organisationen und Organismen zu verteidigen". Kein Wort über vereinigte Bemühungen für soziale Gerechtigkeit, gegen prekäre Arbeitsverhältnisse, gegen neoliberale Globalisierung oder für die Aufnahme und Integration von Einwanderern; nichts, was die Anwesenheit eines fortschrittlichen und international ausgerichteten Organs in einem Kreis rechtfertigen würde, in dem es um die Verteidigung von Abstraktionen wie dem Vaterland geht. Gastgeber war die radikale nationalistische Partei Acción Nacionalista Vasca (ANV), dem politischen Arm des extremen Nationalismus, der sich weigert, die Attentate der Terrororganisation ETA zu verurteilen. Die jüngste Gelegenheit, sich von der Gewalt zu distanzieren, hat sie am 1. Dezember, nach der Ermordung zweier Mitglieder der spanischen Sicherheitskräfte in Frankreich vergehen lassen. Weitere Teilnehmer an dem Treffen waren ein Parlamentarier des Sinn Féin, ein flämischer Abgeordneter der N-VA, sowie Vertreter wählermäßig irrelevanter katalanischer und schottischer Parteien, allesamt nationalistisch. Anwesend war auch ein Vertreter von Die Linke, Michael Leutert, MdB, Parteisprecher im Bundestagsausschuss für Menschenrechte. Dieser Abgeordnete gab eine Reihe von Perlen zum Besten, die nicht geringe Beachtung verdienen: die Situation im Baskenland sei vergleichbar mit der im Tibet; oder: die Folter sei eine systematische Praxis in Spanien. Und als zusätzlichen Beleg für seine ungenügende Information: die Forderung nach Unabhängigkeit sei der Grund für die Inhaftierung der gesamten Führung einer politischen Gruppierung. Damit bezog er sich auf die Partei Batasuna, die seit 2003 in Spanien verboten ist. Dies behauptet ohne einen Anflug von Scham ein Mitglied einer Partei, die sich seinerseits für die Illegalisierung der NPD einsetzt (Vgl. Petra Pau in der Lausitzer Rundschau, 28.7.2007).
Niemand scheint diesen Vertreter darüber unterrichtet zu haben, dass im spanischen Parlament (um nicht erst von den regionalen Parlamenten und den Gemeinden zu sprechen) seit derersten Wahlperiode ab 1979 bis zur letzten, die im kommenden Jahr endet, Abgeordnete von baskischen und katalanischen Parteien sitzen, welche eine regionale Unabhängigkeit anstreben, ohne dass über ihnen jemals das Damoklesschwert der Illegalisierung gehangen hätte. Er weiß offenbar nicht, dass im Baskenland und in Katalonien Parteien, die eine Unabhängigkeit anstreben, an Koalitionsregierungen teilhaben. Er ignoriert, dass eine der parlamentarischen Stützen der gegenwärtigen Regierung von Ministerpräsident Rodríguez Zapatero die Esquerra Republicana de Catalunya ist, eine offen sezessionistische Partei. Sie werden nicht inhaftiert, sondern kosten sogar die Macht. Das bedeutet, dass die Illegalisierung von Batasuna (im Übrigen eine im Baskenland sehr umstrittene Entscheidung) nicht die politischen Ziele dieser Partei - die Unabhängigkeit -verfolgte, sondern vielmehr ihre Legitimation und moralische Unterstützung des Mordes als ein Mittel, sie zu erreichen.
Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 empfahl Bertolt Brecht der DDR-Regierung, sie solle das Volk auflösen und ein neues wählen. Der baskische radikale Nationalismus scheint von dieser Losung verlockt. Wer immer anders denkt und in seinem erträumten Garten störend wirkt, läuft keineswegs nur metaphorisch Gefahr, ermordet zu werden, um so auf dem Weg der ideologischen Homogenisierung voranzuschreiten. Über 800 Menschen ist seit 1968 dieses Schicksal widerfahren. Viele andere vermeiden es durch personalisierte Schutzmaßnahmen. Alle Vertreter des Partido Socialista und des Partido Popular im Baskenland und Navarra, von den Gemeinderatsmitgliedern bis zu den Parlamentariern, führen ständig eine Leibwache mit sich. Ebenso die Richter und zahlreiche Journalisten, Professoren und Unternehmer. Es handelt sich um über 1000 Bürger. Die rund 1000 Polizisten, die dem Personenschutz zugewiesen sind, reichen für diese empfindliche Aufgabe nicht aus. 2008 wird die Einstellung von etwa 2500 privaten Leibwächtern für den Schutz von Menschen, deren Leben bedroht ist, den Steuerzahler etwa 170 Millionen Euro kosten. Die Opfer des Terrorismus und die Bedrohten sind ein Mahnmal und ein Beweis ziviler Courage von Seiten jener, die zu erkennen wussten, dass totalitäre Projekte von dem Moment an bekämpft werden müssen, in dem sie die Menschenrechte des ersten Mitbürgers verletzen. Denn man läuft sonst eine Gefahr, vor der seinerzeit schon Niemöller warnte: dass am Ende niemand mehr bleibt, der protestiert. Und dies ist eine Lehre, welche die Linke verinnerlichen sollte, in Deutschland ebenso wie im Baskenland.
Aus dem Spanischen von Victor Millet
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