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Debatte Arabellion„Ich erstatte Anzeige“

Kommentar von Gilbert Naccache

Ausgerechnet in dem Land, in dem die Arabellion begann, ist die Konterrevolution im vollen Gange. Wesentlicher Teil davon sind salafistische Angriffe auf Juden.

Die Polizei versucht in Tunis Demonstranten zurückzudrängen. Bild: dapd

I ch erstatte Anzeige. Ich erstatte Anzeige gegen diejenigen, die auf der Avenue Habib Bourguiba zum Mord an den Juden aufgerufen haben. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Opfer rassistischer Angriffe wurde. Doch bislang entschied ich mich gegen eine Anzeige, in der Annahme, es handle sich bei den Tätern um junge, unwissende Menschen.

Inzwischen hat sich die Lage verändert: Der Antisemitismus ist in Tunesien zu einer politischen Bewegung geworden. Der Aufruf zum Mord an den Juden ist die Basis seiner Propaganda. Die neuen Antisemiten melden sich immer, immer wieder zu Wort.

Ich erstatte Anzeige, denn diese Mordaufrufe haben nichts mit dem Gefühl der tunesischen Bürger oder ihrer Einstellung zu der jüdischen Minderheit zu tun. Sie dienen allein dazu, die Konterrevolution zu etablieren, im Namen einer sogenannten Ordnung, die die aktuelle Regierung noch nicht herstellen kann.

Um die aufgeladene Situation heute zu verstehen, lassen Sie mich kurz die Ereignisse des letzten Jahres rekapitulieren.

Ausschluss der Revolutionäre

Bild: privat
GILBERT NACCACHE

wurde 1968 wegen politischer Aktivitäten inhaftiert. Nach seiner Freilassung 1979 emigrierte er nach Frankreich und veröffentlichte zahlreiche Bücher zur tunesischen Diktatur. Im Januar 2011 kehrte er nach Tunis zurück.

Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali im vergangenen Jahr fiel das Land zunächst in die Hände von Persönlichkeiten des alten Regimes. Die taten sich mit einzelnen Personen aus der Opposition zusammen, auch aus Mangel an politischen Köpfen, die die Revolution hätten anführen können.

Doch die Proteste auf der Straße veränderten die Situation: Sie übten nachhaltig Druck auf die wenig revolutionäre Übergangsregierung unter dem damals 84-jährigen Ministerpräsidenten Béji Caid Essebi aus.

Essebi war immer der Mann der alten Mächte, der konservativen Bourgeoisie, und bemühte sich darum, den alten Parteigängern Ben Alis nicht allzu sehr zu schaden. Das wurde von der Straße aufmerksam beobachtet.

Fast vollständig ausgegrenzt

Die jungen Menschen, die die Revolution in Gang gesetzt hatten, wurden im Laufe dieses politischen Prozesses aus Mangel an Erfahrung in Politik und Organisation von den Wahlen quasi komplett ausgegrenzt.

Ohne Rücksicht auf die wenig stabile Situation, ohne repräsentative politische Parteien, bereitete Essebis Übergangsregierung die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vor. Das Resultat: Nahezu 51 Prozent der potenziellen Wähler enthielten sich der Stimme, und 30 Prozent votierten für Parteien, die gerade erst gegründet worden waren und nur über geringe finanzielle Mittel verfügten.

Diese Ausgrenzung der Revolutionäre aus dem politischem Prozess führte zu einer Teilung der Gesellschaft: auf der einen Seite diejenigen, die von der Revolution die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Bedürfnisse erwarteten, sich aber nicht politisch einbringen konnten. Auf der anderen Seite diejenigen, die nun direkt am politischen Verfahren teilnehmen konnten.

Das Versagen der Gemäßigten

Dazu gehörten erstmals auch die Islamisten der Partei Ennahda, die lange im Schatten des alten Regimes arbeiten mussten und massiven Repressionen ausgesetzt waren. Sie gingen bekanntlich als Sieger der Wahlen hervor, gestärkt auch durch die große finanzielle Unterstützung der Golfstaaten.

Die neue Regierung besteht nun aus drei Parteien: der islamischen Ennahda mit 89 Sitzen, der Partei Ettakattol und dem Congrès pour la République mit zusammen über 120 Sitzen. Alle anderen Parteien zogen es vor, in die Opposition zu gehen. Ihre Entscheidung stärkt die Zivilgesellschaft und bindet sie an die offizielle Politik.

Gleichzeitig nehmen die Provokationen der Salafisten in dieser Zeit immer mehr zu. An den Universitäten wurden die Studentinnen angehalten, sich zu verschleiern, die literarische Fakultät in Manouba wurde gänzlich von den Salafisten besetzt, die auf den Straßen demonstrierende Künstler und Intellektuelle angriffen und zum Judenmord aufriefen.

Zwischen all diesen Provokationen scheinen sich die Kader der alten Ben-Ali-Partei, der RCD, unter anderen Flaggen neu zu organisieren. Ihre über Jahrzehnte hinweg bewährte Taktik, sich als Bollwerk schlechthin zum Islamismus zu inszenieren, hat auch heute nicht wenig Erfolg. Nur allzu gern wollen viele der säkularen Propaganda Glauben schenken.

Rassenfeindlichkeit und Mord

Leider vermag die aufgeklärte islamistische Bewegung den alten, antidemokratischen Autoritäten nur wenig entgegenzuhalten. Sie ist unfähig gegen die Manöver der alten Kräfte klar Stellung zu beziehen. Denn sie ist geschwächt durch die Unstimmigkeiten und Unentschiedenheit innerhalb der eigenen Reihen, durch ihre Unerfahrenheit in Sachen Macht und Regierungsverantwortung und auch wegen ihrer Paranoia aufgrund der jahrzehntelangen Verfolgung.

So werden von der Regierung Aufrufe zur Rassenfeindlichkeit und zum Mord toleriert – ohne jegliches Einschreiten. Veröffentlicht aber ein Journalist ein „unanständiges“ Foto, so kann er sicher sein, dass er binnen 24 Stunden inhaftiert wird.

Gegenüber Journalisten oder der Gewerkschaft UGTT lässt sich die Regierung immer mehr zuschulden kommen. Friedliche Demonstrationen der Zivilgesellschaft wurden jüngst aggressiver denn je unterbunden.

Anzeige gegen Judenhetzer

Ich erstatte Anzeige gegen die Judenhetzer als tunesischer Staatsbürger, der all den Mitbürgern solidarisch gegenübersteht, die zu Unrecht angegriffen wurden.

Ich erstatte Anzeige, weil ich nicht will, dass die Vergangenheit meines Landes mit seiner jahrtausendealten Zivilisation, die sich durch Toleranz und das gute Miteinander auszeichnete, beschmutzt wird.

Ich erstatte Anzeige im Namen der Revolution, die durch ihre Offenheit und ihren pazifistischen Geist die ganze Welt berührte. Und die nun bedroht ist durch Unverantwortliche, die unsere Revolution und unser Streben nach Freiheit als Blasphemie deklarieren.

Und schließlich erstatte ich Anzeige, weil diese Salafisten, die Initiatoren solcher menschenverachtenden Aufrufe und Übergriffe, auch die erklärten Gegner der Frauen, der Künstler, ja aller Kreativen und Denker sind.

Aus dem Französischen übersetzt von Noura Mahdhaoui

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8 Kommentare

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  • DP
    Daniel Preissler

    "Nur allzu gern wollen viele der säkularen Propaganda Glauben schenken."

     

    Na, liebe Kommentatoren? Doch nochmal durchlesen?

    Der Autor nimmt die gemäßigten Islamisten gegen "säkulare Propaganda" einerseits (die er wohl zu Recht den ehemaligen Herrschenden zuschreibt) und gegen die Salafisten andererseits in Schutz.

    Er verteidigt also nicht weiß gegen schwarz, sondern die mittleren Graustufen gegen die Extreme, wenn man so will.

     

    Gutr Artikel. Herzlichen Dank!

  • OJ
    O je

    "Arabellion" ist eine ganz hässliche Wortschöpfung. Das klingt unernst, viel zu schick und schmissig um der Sache angemessen zu sein. Lassen Sie doch - bitte, bitte - die Modewelle der Faz und sagen Sie einfach "Arabischer Frühling": Das versteht man auch 2012 noch gut und es klingt würdiger.

  • T
    tazan

    "Ich erstatte Anzeige, weil ich nicht will, dass die Vergangenheit meines Landes mit seiner jahrtausendealten Zivilisation, die sich durch Toleranz und das gute Miteinander auszeichnete, beschmutzt wird."

     

    Der Herr gehört wohl selbst zur Konterrevolution. Zumindest die heuchlerische Verklärung der Vergangenheit läßt Zweifel an den revolutionären Interessen aufkommen und "beschmutzt" die Anzeige zur bloßen Denunziation. Auf! Auf! Ihr revolutionären Kräfte Deutschlands! Schickt doch endlich Eure Polizei und den Verfassungsschutz! Dann klappts auch wieder mit den Nachbarn.

  • H
    HeGu

    Einen herzlichen Dank für die Übersetzung, schön dass wir auch in Deutschland solche wichtige Hilferufe der tunesischen Zivilgesellschaft hören und lesen können. Der Aufstieg der Salafiten in den arabischen Ländern wo die Revolution ausgebrochen ist wurde in der westlichen Presse leider sehr wenig in die Tiefe analysiert, denn es gibt nur Berichterstattungen. Welche Verantwortung haben wahabitische Länder wie Qatar, der sich plötzlich als Held der Freiheit und der Demokratie feiern lässt, in dieser Entwicklung?

  • MB
    Markus Brandt

    Sehr guter Artikel. Danke für die Übersetzung! Meiner Meinung nach haben die liberalen Kräfte keine Chance mehr in Nordafrika. Die Salafiten werden von Saudi-Arabien aus mit Petrodollars unterstützt und sie sind international bestens vernetzt wie kein anderer ihrer Kontrahenten. Ihr Ziel ist ein neues Kalifat und ein paar Liberale werden dem auch nicht im Weg stehen. Das Drama ist eben, dass in solch einem eher rechtsfreien Umfeld die skrupellosere Seite siegt, weil sie Andersdenkende durch Vertreibung, Mord und Einschüchterungen beseitigen kann. Ich denke schon, dass die Rebellion in Tunesien zunächst gute Absichen hatte und von korrekten, ordentlichen Menschen getragen wurde. Aber spätestens in Ägypten, Libyen und Syrien ist sie zum totalen Al-Quaida Feldzug geworden.

  • MM
    Mister Maso

    Sehr geehrter Herr Naccache,

     

    ich möchte Ihnen aufrichtig zu diesem mutigen Schritt gratulieren! Erfrischend zu lesen, dass dies in Tunesien noch möglich ist, während hier in Mitteleuropa schon gegenteilge Tendenzen zu beobachten sind.

     

    Denn wer z.B. mit preisgekrönten Karrikaturen gegen salafistische Umtriebe demonstriert, wird sowohl von den Medien, als auch von der Politik (z.B. von Herrn Jäger) als "Provokateur" ausgemacht, mit welchem entsprechend umgegangen werden muss. Eine offene & tolerante Gesellschaft habe ich mir einmal anders vorgestellt...

  • L
    LinkeKonservative

    Ja und, warum wird das hier veröffentlicht?

    Bei uns werden mittels Wohnungsaufbruch Israelfahnen von deutschen Polizisten von den Balkonen gerissen.

    Bei uns braucht man noch nicht einmal Juden um zu provozieren, da reichen schon Fahnen.

     

    Jeder westliche angebliche "Rechte" weiß, dass es keinerlei Probleme im Zusammenleben mit Juden in der weltweiten Diaspora gibt. Man wird gegenseitig zu Feiern eingeladen, man kann wunderbar diskutieren und die Kinder treffen sich zum Spielen.

    Ja, es ist eine Bereicherung Freundschaften mit sakulären Juden zu pflegen, denn mit den Orthodoxen haben die Juden selbst genug Probleme!!!

  • M
    Marti

    Traurig, traurig, aber das war abzusehen.

     

    In Ägypten, Libyen und Jemen sieht es noch viel düsterer aus. Dort triumphiert der orthodoxe Islam, der im Westen gern als "Islamismus" oder "Salafismus" bezeichnet wird.

     

    Auch in Syrien ist es nur eine Frage der Zeit, bis dort die orthodoxen Sunniten die Macht übernehmen.

     

    In den Golfstaaten, in Gaza und im Sudan haben die Orthodoxen schon jetzt die Macht. In Algerien wird es nach den Wahlen am 10. Mai, also übermorgen, rundgehen.

     

    Die einzigen arabischen Länder, die noch nicht völlig im Bann der Orthodoxen einigermaßen stabil sind, sind die beiden Monarchien Jordanien und Marokko, denn dort gibt es zwei ziemlich aufgeklärte Monarchen, die immer noch sehr viel Macht haben.